Nach fast fünf Stunden Aufführungsdauer zeigte es sich kein bisschen müde. Gefühlte 20 Minuten wurden die Akteure und Macher einer faszinierenden und fabelhaften Aufführung bejubelt und beklatscht.
Zu Recht.
Besser als am Samstag können die Theaterleute kaum zeigen, warum Chemnitz eine leistungsfähige Oper braucht und von ihr profitiert. Und warum sie Freude macht.
Das Stück: Die Chemnitzer Theater haben wieder mal eine Oper ausgegraben, über die die gesamte Fachwelt sprechen wird. Wie damals beim „Weg der Verheißung“, bei der „Rose aus dem Liebesgarten“, bei „Il templario“, bei „Die Heimkehr des Verbannten“, um nur einige zu nennen. Deutschlandradio Kultur bestreitet zwei volle Abende im März zur besten Sendezeit mit der Musik aus dem Chemnitzer Opernhaus. Tausende werden zuhören. Wenn am 31. Mai „Vasco de Gama“ im Rahmen der Wagner-Tage aufgeführt wird, wird wohl die Hälfte des Publikums aus Opernfans aus ganz Deutschland und dem Ausland bestehen Sie kommen nach Chemnitz, weil sie wissen, dass dort Herausragendes zu sehen und zu hören ist. Werbung für Chemnitz at its best. Aber auch die Chemnitzer und die Menschen der ganzen Region erleben, was sie in Leipzig oder Dresden nicht erleben können: ein bezahlbares, sonst wo noch nie gespieltes Highlight der Opern-Literatur, das auch noch Ohren und Augen begeistert.
Die Rarität: Mit „Love and other Demons“ haben die Chemnitzer bewiesen, dass moderne, zeitgenössische Musik in der „Stadt der Moderne“ jeden Abend für ein volles Haus sorgt. Meyerbeers Musik ist von vornherein für jeden Hörer eingängig. Er wird an Mozart erinnert (die Aufnahmezeremonie in der „Zauberflöte“ bei der brahmanische Hochzeitszermonie), an Verdi (Triumphmarsch), an Donizetti (Wahnsinnsarie), an Wagner (Matrosenchor) und viele andere quer durch den kompositorischen Notengarten. Meyerbeer, geboren in Mozarts Sterbejahr 1791, war der Lieblingskomponist seiner Zeit, in Frankreich, in Deutschland, in Europa. Wagner mochte ihn nicht, war neidisch auf ihn. Vielleicht hat er gespürt, dass seine „deutsche“ Musik den Leuten schwerer auf’s Gemüt schlug. Vier Stunden „europäischer“ Meyerbeer sind dagegen die reinste Erholung. Wagner diffamierte den Juden Meyerbeer. Die Nazis verboten ihn. Desto erfreulicher, dass GMD Frank Beermann und Intendant Bernhard Helmich die Rarität des einst Berühmten wieder für uns hörbar machen. Meyerbeer hatte die Aufführung der Oper nicht mehr erlebt. Hätte er, hätte sie wahrscheinlich ganz ähnlich geklungen wie am Samstag in Chemnitz – und nicht wie die verstümmelte Version des Belgiers Fétis, die heute als Schlankversion mit dem Titel „Die Afrikanerin“ ab und an noch aufgeführt wird. Die Chemnitzer Oper füllt mit dem neuen, alten Meyerbeer nicht nur den Saal (und schreibt damit den Ihr-müsst-machen-was-den-Leuten-gefällt-Populisten unter den Entscheidern ins Stammbuch, dass sie keine Ahnung haben), sondern erfüllt auch höchste musikwissenschaftliche Ansprüche.
Das Orchester: Deutschlandradio weiß, dass Radiohörer besonders kritisch sind. Sie hören auf jeden Ton, werden nicht vom Geschehen auf der Bühne abgelenkt. Da muss alles passen. Die Robert-Schumann-Philharmonie hat mit „Vasco de Gama“ ein Glanzstück abgeliefert, von den makellosen Hörnern gleich zu Beginn über die wunderbar präzisen Holzbläser (auch quer über den Graben zusammen mit den Kontrabässen), die bisweilen sentimentalen, ganz und gar ungewöhnlich arienbegleitenden Trompeten zu den beiden Harfen und den schwer arbeitenden Streichern, die so leicht daher kamen, dass manchmal nur Atmosphäre schwirrte. Die Robert-Schumann-Philharmonie ist beides: ein Konzert- und ein Opernorchester. Ganz im Gegensatz zum Gewandhaus-Orchester etwa, das ein Bühnen-Orchester ist. Und sich nur vertragsgezwungen in den Opern-Graben hinunterbewegt. Was man öfter auch hört. Der Gewandhaus-Chef Riccardo Chailly hat sich aus der Oper rausdividiert. Frank Beermann nicht. Er liebt geradezu den Einfluss von der Bühne – lässt das Orchester verhalten, wenn Sänger oder Sängerin herzschmerzschluchzen, peitscht es an, wenn’s auf der Bühne hoch hergeht. Die subtile Balance zwischen unzählig vielen Riterdandi und Accelerandi, wo das Orchester den Sängern buchstäblich „auf’s“ Maul schauen muss – die gelingt Beermann und den Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie überwältigend. Keine Sekunde hat der Hörer das Gefühl, Bühne und Graben singen oder spielen verschiedene Sprachen. Hartmut Schill, der Konzertmeister, saß am Samstag im Publikum. Bei anderen Aufführungen sitzt er wieder am ersten Pult. Alle sind gefordert bei solchen Anstrengungen. Jeder Musiker der Philharmonie muss den Part drauf haben. Und bei dreimal Wagner und einmal Meyerbeer an vier Tagen (wie im Mai/Juni) kommen alle an ihre Grenzen. Höchstleistungen sind gefordert – so etwas ist den Köpfe- (und Erbsen-)Zählern der KPMG fremd, die das Orchester kleiner machen wollen. Das ist Unsinn, liebe Leute. Wenn Ihr nicht nur rechnen, sondern auch hören könnt, hört Euch diesen „Vasco de Gama“ an. Und Ihr wisst, warum Chemnitz sein A-Orchester braucht. Wenn Ihr es überhaupt wissen wollt.
Das Ensemble. Der komplette Chor, fast das ganze Ballett, eigene und fremde Solisten zwischen den sparsamen (Achtung: doppeldeutig!) Kulissen (Markus Meyer) auf der Bühne – große Oper braucht Masse und sehnt sich nach Qualität. Querdurch. Ohne Abstriche. „Vasco de Gama“ ist da besonders aufregend: nirgendwo sonst gibt es so viele Duette, Terzette, ja auch Septette und Oktette, wo alles zusammenstimmen muss – jeder Tonwechsel, jeder Schlusskonsonant. Gut, dass Chemnitz ein so gutes Ensemble hat, dass auch Gäste sich (gern und) nahtlos einpassen. Kouta Räsänen sei besonders erwähnt – kaum einen Ton kriegte der Virus-Geplagte schmerzfrei raus bei den Proben, aber am Samstag strahlten seine Stimme und er. Guibee Yang – die kleine koreanische Blondportugiesin, wie wuchs sie über sich hinaus! Viele Gäste waren schon häufiger in Chemnitz, weil die Auftritte dort was Besonders sind (auch wenn’s nicht so viel Geld gibt wie vielleicht anderswo): hervorzuheben Claudia Soronika, die Taschkenterin, die wir schon als Tosca kennen- und schätzen gelernt haben. Was auch immer Regisseur Jakob Peters-Messer an Welt-, Religions- und Machtphilosophie aus Eugène Scribes Libretto herauslas (lesenswert das Programmheft), allein ihretwegen hätte er auch den Titel „Die Inderin“ wählen können. Clever, wie Meyerbeer war, hatte er – Marketing: bekannte Namen suggerieren Größe und Bedeutsamkeit – aus seiner „Afrikanerin“ den großen „Vasco“ gemacht, den jeder auch in der damaligen Welt kannte. Aber auch wenn aus der Afrikanerin die Inderin geworden ist: Dieses zerbrechliche Geschöpf, das vor Liebe brennt und an ihr verbrennt – sie ist die zarte Mitte dieser gewaltigen Oper. Ihre Todeswahnsinnsarie im verheerenden Rausch des Manzanilla-Baums – ein (langes) Kabinettsstück für sich. Selten hat ein langes Bühnensterben so anrührend gewirkt wie in dieser vom Ballett bebilderten Szene aus Erstarren, Schleifen, Treiben und Erschlaffen (Choreografie Anke Glasow). Bernhard Bechtold (ihren Nein-Ja-Nein-Vielleicht-Vasco) haben wir schon in der „Heimkehr des Verbannten“ und der „Schweigsamen Frau“ erlebt, Pierre-Yves Pruvot (der Sklave Nélusko mit allen erdenklichen Seelenhochs und -tiefs, die jeweils auch die Stimme färben müssen) kommt jetzt hoffentlich auch öfter nach Chemnitz. Er ist Franzose. Ihm ist das Französisch in den Kehlkopf geschrieben. Klasse aber und meist blitzsauber, wie die Solisten von überall her und der Chor die fremde Sprache intonierten und nasalierten. Und am Rand ein Kompliment auch an die Dramaturgin Carla Neppl, die mit Constanze Heidelauf für die deutschen Übertitel zuständig war. Warum Chemnitz den Chor braucht, so wie er ist, und das Ballett – hier hätten sie es hören und sehen können, die Herren von der KPMG.
Und auch die Chemnitzer Krisen-Entscheider. Ob sie da waren, um sich einmal anzuschauen und anzuhören, worüber sie zu entscheiden haben? Ich weiß es nicht. Gesehen habe ich sie nicht. Sie vielleicht?
Das meinen andere:
Hören Sie auch, was die Kritiker von MDR und Deutschlandradio zur Aufführung meinen. Und lesen Sie, was die Freie Presse dazu schrieb.
„Erfreulicherweise wird „Vasco de Gama“ auf CD festgehalten. Wenn man Relevanz und Umfang dieses Projekts betrachtet, so darf man mit Fug und Recht von Chemnitz als einem sächsischen Paris sprechen. Den reizvolleren Spielplan (was Neuproduktionen betrifft) als die von Nicolas Joel geleitete Opéra de Paris hat Chemnitz ohnehin“, schreibt Jörn Florian Fuchs in „Die deutsche Bühne“. Den ganzen Artikel finden Sie hier. Der Fuchs Artikel wurde auch in Wien veröffentlicht.
Mittlerweile haben sich auch die Neue Musikzeitung („Meyerbeer in Chemnitz – ein Gesamtereignis“) und „Die Welt“ („Doch muss man hinfahren, staunen. So komplett wird man „Vasco de Gama“ nie wieder hören. Sage keiner, das habe sich nicht gelohnt“) zu Wort gemeldet. Höchstes Lob von beiden. Und so lobt Eleonore Büning in der FAZ.
Ausschnitte aus der Aufführung können Sie auf YouTube sehen.