Standing ovations für die Robert-Schumann-Philharmonie

Schill wurde vorher schon mal gedrückt. Oder er drückte – seine Kollegin Heidrun Sandmann für ihre grandiose Leistung in John Coriglianos Violinkonzert „The Red Violin“. Zurecht überreichte er ihr einen richtigen Blumenstrauß, nicht das bisweilen popelige offizielle „Danke“. Heidrun Sandmann ist da ganz anders als der Chef – sie spielt nicht Hämmer von Tschaikowsky, Bruch oder Brahms, die Beifallsgaranten. Oder Mendelssohn, nach einem von dessen Nachkommen die Stradivari benannt ist, die das Vorbild für François Girards Film „The Red Violin“ von 1998 abgegeben haben soll.

Heidrun Sandmann verdanken wir, dass wir in Chemnitz selten gespielte Werke wie die Konzerte von Pfitzner, Dohnány oder Korngold erlebten, die sonstwo kaum zu hören sind. Nun also die „rote Violine“, die blutgetränkte, wie die Sage erzählt. Denn die Gattin des Geigenbauers aus Cremona war bei der Geburt des gemeinsamen Kindes gestorben, als der Meister gerade diese Geige baute. Sie brachte im Lauf der Jahrhunderte ihren Spielen und Besitzern wenig Glück – und irgendwann war sie ganz verschwunden, bis sie bei einer Versteigerung bei Christies 1990 plötzlich wieder auftauchte. Nicht die mysteriöse natürlich – sondern ihr Vorbild, die Stradivari von 1720. Heute spielt sie die amerikanische Geigerin Elizabeth Pitcairn. Und ihr bekommt sie offenbar gut…

John Corigliano, Sohn eines Geigers, des Konzertmeisters der New Yorker Philharmoniker, war einerseits angetan von dem Stoff, andererseits wusste er genau, wo die Geiger ihre Schwierigkeiten haben. Zu viele Stunden hatte er seinen Vater immer wieder die gleichen Stellen üben hören. Und als ob er ein Sadist wäre, hat er sein Konzert, das aus dem Hauptstück der Filmmusik, einer an die Cremona-Zeit erinnernden „Chaconne“, entstanden ist, mit Schwierigkeiten aller Art gespickt. Heidrun Sandmann steckte sie weg, als sei das alles gar nichts, schüttelte zu neuem Handgelenkturnen allenfalls mal die rechte Hand. Die halsbrecherischen Stakkato-Läufe von unten nach oben und umgekehrt, die sauschweren Tonhalter (Anfang!), bei denen der rechte Arm so ruhig bleiben muss, wie es nicht mal Deine aufgeregten Wimpern schaffen, die Doppelgriff-Kaskaden – ohnehin schon schwer genug, dann aber auch noch im Flageolett, wo schon Abweichungen der Finger im µ-Bereich allenfalls ein Quietschen statt der gewollten Oberschwingungstöne erzeugen. Sie scheute sich nicht, auch mal ein ganz schnelles Vibrato einzusetzen, wo es ihr der Nervosität der Komposition zu entsprechen schien. Dann wieder formte sie rundgeballte Tonkraft auf der G-Saite, tief drunten, und jubelte herrlich, wenn sie ganz oben auf der E-Saite den Hof ganz ohne Not erreicht hatte. Man sah ihr an, wie sie die aufragenden Gebirgstonmassen im Orchester und die jähen Abstürze miterlebte, wie sie die rhythmischen Vertracktheiten direkt ins Blut übernahm. Dabei konnte sie sicher sein, dass sie in García Calvo einen Partner hatte, der die Kollegen schaumbremste und sie, wie die Sänger im „Rheingold“, auf subtilen Händen zum gemeinsamen Triumph hob. Im Film passt die Musik zu den teilweise schlimmen, aber auch rührseligen Bildern. In den Plattenschrank stellt sich die CD kaum jemand. Desto schöner, dieses rote Monster-Konzert einmal live erleben zu dürfen – dank Heidrun Sandmann. Große Klasse.

Gershwin soll Ravel in Paris gebeten haben, ihn zu unterrichten. Darauf Ravel (so steht’s im Programmheft): „Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden, wenn Sie ein erstklassiger Gershwin sein können“. Wir wissen heute, dass alle zwei erstklassig waren. Und Gershwins Spaß, die Erlebnisse eines Amerikaners in der damaligen Weltkulturhauptstadt Paris zu vertonen, ist schlichtweg ein Geniestreich. Die Taxihupen, die sich Gershwin direkt in Paris für die Uraufführung 1928 in New York besorgte, hat der Lektor im Musikverlag später gestrichen. Wer hat im Orchesterapparat auch noch Autohupen zur Verfügung?  Kein Problem, auch in Chemnitz nicht. Da hupten einfach die Trompeten über den straßenlärmenden Kollegen. Großartig (mit kleinen Ungereimtheiten wieder bei den Hörnern) übrigens wieder das Blech der Robert-Schumann-Philharmonie, dem – aber das heißt wirklich, Wasser in die Chemnitz tragen – die Holzbläser in nichts nachstehen.

Das zeigten sie schon bei den Kapriolen des „Morgenständchens eines Narren“ („Alborada del gracioso“), diesem verrückten Stück, in dem man bei Sonnenaufgang den schminkverlaufenen Narrenclown nach Hause tapsen und tanzen sieht und hört, während sich die ehrbaren Bürger langsam aus dem Bett erheben zu löblichem Tun. Ravel, Meister der Instrumentation, durch dessen Kunst Mussorgskis Klavier-“Bilder einer Ausstellung“ erst zu Weltruhm gelangten, hatte sich hier ein eigenes Klavierstück zur Instrumentierbrust genommen. Ein sauschweres Stück. Schwierigkeitsgrad acht von neun verleiht im der Verlag der Urausgabe. Einfach ist das Ding auch für das Orchester nicht – mit seinen musikalischen Farbfetzen jener Zwischenwelt in tausend Abschattierungen am frühen Morgen. Spannender Auftakt für besessene Musiker, die keine Sekunde nachließen, das Beste aus sich und den Instrumenten herauszuholen bis zu dem krönenden Abschluss, dem Bolero.

Die Rührtrommeln, erst eine, dann zwei, kämpfen unbeirrt ihren ostinaten Kampf mit den Rhythmus-Triolen im Dreivierteltakt, und darüber erheben sich, Zug um Zug, lauter, größer und herrscherischer die beiden Themen in den 18 Variationen der Solo-Instrumente und der Stimmgruppen, bis alles sich konvulsisch entlädt. Kein Wort darüber hinaus zu diesem größten „Crescendo des Orchesters“, das jeder im Ohr hat. Und in den Fingern, die den Rhythmus auf dem Oberschenkel mittippen wollen, und sich doch immer wieder vertun. Bemerkenswert, wie zurückhaltend García Calvo dirigierte, wie er den Drive, den das Orchester aus sich heraus produzierte, nur unmerklich steuerte.

Und trotzdem hätte er sich eine (zumindest symbolische) Ohrfeige des Komponisten eingehandelt. Der hörte mal, wie Toscanini in New York mit dem Philharmonic Orchestra den “Bolero” spielte. Ravel danach, stocksauer: „Das Schwein hat zu schnell gespielt, das ist unverzeihlich! Das ist unglaublich! Das Stück ist ruiniert!“ Toscanini, dem Dirigentenpapst, soll das schnurz gewesen sein: „Sie haben keine Ahnung von Ihrer Musik. Das ist die einzige Möglichkeit, damit Ihre Musik überhaupt ankommt!“, soll der geantwortet haben.

Ursache des Streits: Ravel fand, Toscanini habe zu schnell gespielt. Er hatte eine sehr genaue Vorstellung wie lang der Bolero dauern sollte. 17 Minuten. Vor allem nicht weniger. Calvo hat 15 Minuten, 14 Sekunden gebraucht. Auch wenn Ravel wieder nicht aufgestanden wäre wie damals bei Toscanini – das Chemnitzer Publikum war begeistert. Und – nach der Zugabe – standen sie dann wie schon am Mittwoch alle und jubelten dem Dirigenten und seinem Orchester zu. Großartiger Abend. Jetzt kann der Opernball kommen. Nach „Red Violin“ die „Nuit en rouge“. Nomen sei omen.