Neckschnacksch, die Rheintöchter v.l.: Sophia Maeno (Floßhilde), Guibee Yang (Woglinde), Sylvia Rena Ziegler (Wellgunde), Jukka Rasilainen (Alberich) -- Foto: Kirsten Nijhof

Mutig

Die Chemnitzer Oper hat sich über Jahrzehnte als sächsisches Bayreuth etabliert, obwohl der in Leipzig geborene Komponist nur mal kurz da war, als er bei seiner Schwester Unterschlupf finden musste auf der Flucht vor den Schergen, die dem Revoluzzer der Dresdner Mai-Unruhen (1849) hart auf den Fersen waren. Hart auf den Fersen der Chemnitzer Oper sind mittlerweile auch die Häuser in Dresden und Leipzig. In beiden wird zur Zeit der Ring auch wieder gespielt, in Leipzig in der zwischen 2013 und 2016 entstandenen Inszenierung (Rosmund Gilmore), in Dresden macht Thielemann sein eigenes Grabenfestspiel mit Willy Deckers zwischen 2003 und 2006 entstandenem „Ring“. Und mosert gleich, für ihn sei das „der erste und letzte RING an diesem Haus unter den gehabten Bedingungen“. Mit dem Stab ist der besser als mit seinem Deutsch: Sagen wollte er, dass er zu wenig Proben hatte wegen des Semper-Opernballs.

Auf dem Chemnitzer Opernball am nächsten Samstag werden die Gäste zwar rot sehen, aber nur wegen des Mottos „La nuit en rouge“, nicht wegen der Rheingold-Premiere gestern, Samstag, im ausverkauften Chemnitzer Opernhaus. Gesprächsstoff allerdings liefert sie in Hülle und Fülle. Chemnitz hatte als erste sächsische Oper nach der Wende ab 2000 den „Ring“ wieder gespielt. In einer beeindruckenden Nah-am-Werk-Inszenierung von Michael Heinicke und dessen unvergesslichem Bühnenbildner Wolfgang Bellach. Das war ein Wagner, wie ihn die Alt-Wagnerianer lieben – sie reisten aus der ganzen Welt an. Nun wagt sich Chemnitz zum Stadtjubiläum (875 Jahre) wieder an den „Ring“ – an einen neuen, nicht einen Wiederaufguss. Vier Frauen sollen ihre weibliche Sichtweise auf Wagners Mammut-Werk werfen. Jede für sich. Mutig. Die Moderne ist keine Hätschelwelt. Buhs sind einkalkuliert. Sie kamen auch. Geballt. Drangen aber gegenüber den Bravi nicht richtig durch. Zu überzeugend waren Sängerinnen und Sänger und die Musik, die der neue Chemnitzer GMD Guillermo García Calvo mit der Robert-Schumann-aus dem Graben zauberte. Ohnehin galten die Buhs nur dem Konzept von Verena Stoiber (Regie) und Sophia Schneider (Bühne und Kostüme).

An der Wirkmacht von deren Bildern kommen aber auch die Puristen nicht vorbei. So unerschöpflich Wagners Stabreim-Topf und sein Noten-Füllhorn brodeln, so viel Ideen sprudeln in den Köpfen des jungen Leitungsteams. Im Nibelheim von Alberich und Mime hauen nicht Unterrheinschmiedesklaven den Amboss zur Hortvermehrung, da warten im Flat-rate-Bordell Menschen-Stücke, dass sie zur Geldvermehrung gehämmert werden, und Kindersklaven nähen Trikots und Schlumperpuppen für den Weihnachtsbaum von goldigen Herrschaftsmädchen wie Freia. Frühkapitalist Fafner wird sie später wegschaffen zum Weiterschuften. Und im Namen vom bärtigen Vorsinger an der Chemnitzer Brückenstraße wird dagegen die Mauer errichtet, die verschwunden sein wird, ehe es den Herren Göttern so richtig dämmert.

Es hat Vorteile, wenn Regisseure nicht den ganzen Ring machen, wenn sie nicht Spannung bis zur letzten der 16 Stunden aufbauen müssen und stattdessen gleich am „Rheingold“-Vorabend der Tetralogie ihr ganzes Pulver verschießen dürfen. So stimmig es sein kann, die Irrealität der realen Welt mit Selfies und Spiegel-Bild-Phantomen zu illustrieren, das hält die zweieinhalb Rheingold-Stunden, aber nicht den ganzen „Ring“ über. Und wenn der ursprünglich Schwanz-gesteuerte Alberich mit dem Liebesverzicht nicht gleich noch sein erschröckliches Erektum abschneidet, er dafür später nicht nur den Ring sondern auch den Finger dran opfern muss, dann spricht das eher dafür, dass Verena Stoiber und Sophia Schneider nicht auf Teufel komm raus Bilder malen, sondern mit einer gewissen Subtilität von Andeutungen „sprechen“. Wenn die schuldigen Rheintöchter ihr Gold verlieren, ihr schimmerndes Haupthaar (was für eine Idee!), und sich schamhaft unschuldig nackig und kurzhaarig wie weiland Eva nach dem Sündenfall wiederentdecken, nicht ohne die Sehnsucht nach dem, an dem alles hängt, und nach dem alles drängt, aufzugeben (Schluss-Terzett), dann schließt sich der Kreis. Dieser. Aber es stehen noch dreizehneinhalb Stunden aus. Wir sind gespannt, welch neues Bildpulver Monique Wagemakers für „Die Walküre“ lädt (Premiere 24. März).

In Dresden werden die Stars neben Thielmann hoch gelobt, auch in Leipzig die Besetzung gefeiert. Kommt nach Chemnitz, kann ich da nur sagen. Wir erlebten am Samstag einen herausragenden Kristián Cser, einen Wotan mit einer ungeheuren Modulationsfähigkeit der Stimme, die in jeder Sekunde präsent war, tief, hoch, auf dem Bett des tragenden oder über den Wolken des tosenden Orchesters aus dem Graben. So kurz der Auftritt von Erda ist, wir haben eine begnadete Bernadett Fodor gehört (sie wird in späteren Aufführungen auch die Fricka singen). Jukka Rasilainen, bei Gott körperlich kein Zwerg, sang das barocke Gewürfeltsein dieses Naturmenschen in all den Facetten von Gier, Macht, Wut und Verzweiflung. Benjamin Bruns, auch (und besonders) im Piano ein Mephisto-Loge par excellence. Monika Bohinec hat eine herrlich tragende Stimme, mit der sie betteln kann, aber auch zeigen, wer frau im Hause ist. Und all die anderen: Matthias Winter (auch schauspielerisch das Letzte rauskehrend, so wie wir ihn kennen) als Donner neben seinem Gast-Kumpel Froh (Petter Wulfsberg Moen mit einem geschmeidigen, leichten Tenor), oder der auch als Controller-Riese unnachahmliche Magnus Piontek als Fasolt, dem James Moellenhoff als Fafner ein kongenialer Partner und Mörder ist. Maraike Schröter, hier nicht die Schützerin der Jugend, sondern das lebenslustige junge Mädchen, das in seinem gelben Kleidchen (puh, wie hässlich) vor nichts und niemandem zurückschreckt, gewinnt sofort die Herzen. Das trifft aber vor allem auf die drei Rheintöchter zu. Guibee Yang, Sylvia Rena Ziegler und Sophia Maeno hangeln im Fastnichts-An an ihren Lianen und singen trotzdem so abgestimmt und rund, als klängen sie nicht von Rheinestiefen sondern aus sphärischen Himmelhöhen.

García Calvo, der Spanier, ist Wagner-Verehrer. Selbst Mutter und Frau müssten dahinter zurückstehen, sagte er bei der Pressekonferenz im Herbst. Calvo feiert sich, wenn er Wagner dirigieren darf (als Gnade empfindet er das), nicht selbst, er dient. Der Musik, er kennt jedes Motiv, ahnt es vorweg. Er lässt höchst sängerfreundlich musizieren, schützt Sängerinnen und Sänger, wenn sie turnend singen müssen (Rheintöchter) oder auf dem Boden liegend (Fricka). Er hat einen unheimlich langen, geduldigen Atem, wenn er das Orchester bis zum Ausbruch führt (Vorspiel – das war schon Extra-Klasse) und er holt in den Tutti allen Glanz der Musik heraus, wo andere so oft brutale Orchestermacht demonstrieren. Die Robert-Schumann-Philharmoniker, alle Wagner-erfahren, manche mehrfach bayreuth-(aus-)gezeichnet, folgen dem neuen Chef in höchster Übereinstimmung, strahlend von den ersten Geigen (sitzen ausnahmsweise klangtechnisch hervorragend in der Mitte) bis zu den acht Hörnern und Wagnertuben, deren kleine Wackler wir ganz schnell vergessen haben.

Ein überraschender Abend, ein interessanter Abend. Sprühend vor Ideen, eindrückliche Bilder, großartige Stimmen und ein, wenn man das sagen darf, „spritziger“ Wagner. Das werden manche Buh-Rufer nicht gern hören. Macht nichts. Mit diesem „Ring“-Auftakt hat die Oper Chemnitz wieder mal gezeigt, dass sie immer für Überraschungen gut ist. Wir sind gespannt darauf, welch weitere die drei anderen Regisseurinnen in petto haben Sabine Hartmannshenn „Siegfried“ – Premiere: 29. September, Elisabeth Stöppler „Götterdämmerung“ (1. Dezember).

Und wir sind gespannt darauf, wie das Publikum urteilt über den „weiblichen Blick als Konzept?!“. Das will mdr-Kultur herauskriegen (Hörertelefon 0800 5599884, und live am 10. Februar ab 20.05 Uhr im Opernmagazin).