Heimspiel

Die Schumanns, Clara und Robert, sind 2019 en vogue. Clara wurde vor 200 Jahren in Leipzig geboren, am 13. September. Zum Festkonzert in der Bonner Beethovenhalle (unter anderem mit Klavierkonzerten von Clara und Robert) wurden – weil besonders authentisch – die Robert-Schumann-Philharmoniker aus Chemnitz eingeladen. Großer Publikumserfolg. Von der Schumann-Euphorie etwas abbekommen will nun auch das Theaterorchester Plauen/Zwickau. Es wurde in Clara-Schumann-Philharmoniker umbenannt. Robert wurde 1810 in Zwickau geboren. Aber dessen Name tragen seit 1983 auf Initiative von Gerhard Worm, einem Zittauer, die Chemnitzer, damals Karl-Marx-Städter Philharmoniker.

Mit der Vergangenheit und dem Namen allein kann man keinen Blumentopf gewinnen. Alte Hüte. Dass sie in Sachen Schumann up to date und Maßstab sind, hatten die Musiker offenbar schon am Mittwoch gezeigt. Das Konzert am Feiertag begann eine Viertelstunde verspätet – so viele Besucher standen noch an der Kasse und wollten rein. (Schön. Noch schöner, wenn so was künftig auch jemand im Saal bekannt geben würde…).

Ausgerechnet der Spanier García Calvo zeigt nun, wie Schumann heute zu spielen ist. Er griff auf die Urfassung der Sinfonie zurück, die von 1841. Schumann hatte vier Sätze voller „Anmut, Leichtigkeit, Klarheit“ (Brahms) geschaffen, die wie ein einziger Satz daherkommen. García Calvo hielt sich daran – nichts walzt er romantisierend aus, nichts lässt er schreierisch daherkommen. Das (diesmal sehr reine) Blech setzt Akzente, dominiert aber nirgendwo. Flöte, Klarinette, aber auch mal die zweiten Geigen locken die Kollegen der anderen Stimmgruppen, machen Lust auf das konzertante Ausschmücken der Motive und Fugati. Schills Violinsolo fliegt leicht daher – kein: seht her, da komm‘ ich. Dafür leiten die Celli in mörderischem Tempo das Finale ein – zu Recht sichert ihnen Calvo am Schluss einen Sonderapplaus.

Das Ganze wirkt logisch, klar, strukturiert trotz der komplizierten Themenverbindungen, die sich durch die vier Sätze ziehen und schließlich im großartigen Finale münden. Ganze 23 Minutenbraucht García Calvo für die Sinfonie – ohne dass auch nur eine einzige Stelle gehetzt klänge.

Fast noch mehr erstaunt die Zeitbeherrschung im ersten Klavierkonzert von Johannes Brahms, der dem 23 Jahre älteren Freund Schumann viel zu verdanken hat. Dieses mächtige d-moll-Werk kommt in manchen Interpretationen daher wie eine walzende Wuchtbrumme, Pianisten ersetzen angeblich mangelnde Brillanz mit donnerndem Tastenhauen. Ganz anders der Calvo-Freund und-Landsmann Javier Perianes. Ganz unaufgeregt arbeitet er die wunderbaren Kontraste des Werks heraus, ist in den sinfonisch angelegten Stellen Partner des Orchesters und in den rein solistischen unaufdringlicher Diener der Ideen des noch suchenden Brahms, der vor diesem Klavierkonzert noch keine Sinfonie geschrieben hatte und sich vor Ehrfurcht vor Beethoven  noch zurücknahm und trotzdem ein Meisterwerk schuf.

Das wunderbare Adagio ist, so schrieb er ihr selbst, ein musikalisches Porträt von Clara Schumann, die Brahms (wohl mehr als nur) verehrte. García Calvo und Javier Perianes nahmen es ganz ruhig und ganz leise. Ein Musterbeispiel dafür, warum CD oder Streaming nie das Live-Erlebnis toppen können. Da dreht der Toningenieur schon mal den Regler ein bisschen hoch, dass man überhaupt etwas hört, so wie er bei Fortissimi gern etwas herunterdreht, dass nicht Boxen oder gar Tablet-Lautsprecher(chen) scheppern. Ganz anders hier. Wunderbar eindrückliches Pianissimo, fast erstarrende Langsamkeit. Du denkst, das „reichlich 50-minütige Werk“ (Programmheft; viele Aufnahmen gehen auch deutlich über die 50 Minuten hinaus) wird an der Obergrenze des „reichlich“ landen. Großer Irrtum. In 47 Minuten war alles gesagt –  dabei war nie auch nur die Spur des Gedankens aufgekommen, irgendwo würde fast eingeschlafen oder an anderer Stelle gehetzt.

Trotz seiner (noch) mangelnden Orchestrierungserfahrung hat Brahms mit seinem ersten Klavierkonzert ein ungemein farbenreiches Werk geschrieben, das der Solist wunderschön nachmalte. Manuel de Falla (1876 – 1946), Landsmann des Dirigenten und des Solisten, dagegen war ein Instrumentierungszauberer par excellence. Desto erstaunlicher, wie Perianes das grellbunt instrumentenfunkelnde „El amor brujo“ aufs Klavier reduzierte – tolle, vom begeisterten Publikum erzwungene Zugabe.

Die Robert-Schumann-Philharmonie ist auf vielen musikalischen Feldern aktiv. Sie wird für Wagner hochgelobt, und in jüngster Zeit auch wieder für ihre Fähigkeit zur Italienità (Faccio, Boito). Und doch – Brahms, Schumann, die fühlen sie mit, die sind in ihren Genen gespeichert  – und offensichtlich auch in denen ihres spanischen Dirigenten. Großer Abend, guter Start in die neue Konzertsaison.