„Vor lauter Schauen habe ich gar nicht zugehört“, wunderte sich in der ersten Pause (in Chemnitz gibt’s wegen des aufwändigen Bühnenbilds zwei, und die Oper dauert statt zweieinhalb fast eine Stunde länger als sonst wo) ein bekennender Opernfan. Dabei hat der Chor (treulich und souverän geführt von Regisseur Balázs Kovalik, in fantastischen mehrfach gewechselten Kostümen – von Mari Benedek (hergestellt, so steht’s im Programmheft, in den Werkstätten der Staatsoper Budapest) gleich zu Beginn dieser „Choroper“ beim Prolog eine himmlische Aufgabe. Stefan Bilz und Dovilé Šiupényté haben die Sängerinnen und Sänger und die niedlichen Cherubinkinder auf die Minute (auch im Italienischen) topfit gemacht. Was auch immer sie darstellen dürfen und wie sie sich bewegen müssen, die Sängerinnen und Sänger fliehen nicht vor vertrackten Fugati und schmachtvollem Kantilenen-Background. Teuflisch gut.
Regisseur Kovalik mutet nicht nur den Darstellern und Bühnentechnikern alles ab, um dem Publikum eine fantastische Faust-Show zu bieten, sondern auch dem Dirigenten. Auch wenn der Ungar viel von Musik versteht und sich jedes Flötengezirpe auf der Bühne in Figur umsetzt, der Chor sich teilt wie die Stimmgruppen im Orchester, und die Solisten im Stehen, Liegen, hoch droben auf dem Gerüst singen – Guillermo García Calvo hält dieses fantastische Töne- und Bewegungsgewimmel souverän zusammen – ja, er lässt sogar stets hören, dass der Freundfeind Verdis, sein Librettist Boito, musikalisch weit über den frühen Verdi hinausgegangen ist und in die Zukunft führt, ja, auch die eines Wagner. Die Robert-Schumann-Philharmonie, auf der Bühne und im Orchestergraben folgt ihm ein Herz und eine Seele.
A propos Zukunft: der Hexensabbat im Land derer, die wir mit der Seele suchen, wandelt Kovalik mit seinem genialen Bühnenbildner Csaba Antal in ein Utopienland, wo die Helden in schützenden Riesenballons ihr ätherisches Leben führen und Helena und Faust in hochkomplizierten Geräten für eine Wiederkehr in einer Welt, in der alles schön und ideal sein wird, haltbar gemacht werden sollen. Aber das wäre ja eine Antwort, und das würde weder dem ewigen Hinterfrager Mefistofele passen, noch würde es für Faust stimmen. Es gibt keinen Augenblick, der so schön wäre, dass er verweilen könnte. Dann wäre das Leben auf der Erde, die sich weiter dreht, dahin. Wie das von Faust, als er sich Gott und Teufel besiegend, aus der Schönaugenblickskonservierungskammer befreit und den Augenblick wählt, der tatsächlich verweilt, den Tod, der kein Ende sein muss, wenn einer, der alles studiert und nirgendwo angekommen ist, den Sinn des Menschseins kapiert hat.
Bei aller Show – Kovalik hat seinen Faust drauf, so wie Knödler, dessen Faust II im Schauspielhaus zur selben Zeit durch die Utopien jagt (und wo, ganz nebenbei, auch das Ballett mit von der Partie ist – über Unterbeschäftigung können die Tänzerinnen und Tänzer wirklich nicht klagen). Wer die goetheschen Menschheitsfragen nicht hinterfragen will, der hat schlicht und einfach seine Freude an diesem ungeheuren Spektakel im Opernhaus. Und Boito hat sich ja auch ausgesucht, was ihm denn gerade aus dem deutschen in den italienischen Strumpf passte. So sucht sich auch König Mefistofele in der Walpurgisnacht eine Europaflagge als Hermelin aus – warum? Keine Ahnung. Dafür sind die Übertitel (Carla Neppl?) gekonnt aus dem Deutschen genommen – wie aus unserer Schulzeit-Reclam-Ausgabe, was auch immer „Heinrich mir graut vor Dir“ oder „O Augenblick…“ auf Italienisch heißen mag.
Nicht nur rührend, eine der großartigsten Szenen in dieser bemerkenswerten Aufführung ist die Kerkerszene (wo der „böse“ Mefistofele Gutes tun und Margherita befreien will…). Ein schrecklicher Blutflecken auf dem unüberschreitbaren Zellophan-Geviert und eine verzweifelnd schon jenseitige Margherita sich um ihr Leben singt. Ein Höhepunkt des Abends – Katerina Hebelkova, die schon zu Beginn überzeugt hat, übertrifft sich hier selbst. Ihr Sopran ist so voll, so rührend und doch klar – Gänsehaut. Wie beim anschließenden Duett mit Faust. Cosmin Ifrim, kein faustischer Faust, sondern ein Ge- und Verführter, singt die grellhohen Stellen souverän, um hier – fast noch besser – im Verzicht zu ersterben. Und García Calvo lässt das Orchester mithauchen. Grandios.
Magnus Piontek hat schon vorher im Internet gepostet „#daumendrückenerwünscht #Gipfelstürmer #anspruchsvollstePartiebisher“. In der Tat ist dieser Boito-Mefistofele ein Stimmfacettenpeitscher. Viel ganz unten, dann wieder riskante Tonsprünge. Hat Piontek alles geschafft. Kovalik hat Mefistofele nicht als Gründgens-Mephisto angelegt, als hämischen Besserwisser, sondern als einen, der auch fühlen kann wie ein Mensch. Das kommt dem schauspielerischen Talent von Piontek zusätzlich zugute Große Rolle. Gipfelstürmer in der Tat.
Siyabonga Maqungo als Wagner und Nereo und Sophia Maeno als Marta und Pantalis seien nicht vergessen – sie fügten sich nahtlos in diesen, auch sängerisch, großen, farbenprächtigen Abend ein.
„Es hat nicht sollen sein“, damals, als Rolf Stiska Intendant in Chemnitz war und den Boito auf die Bühne bringen wollte. Wahrscheinlich ist die inzwischen noch moderner gewordene Bühnentechnik bis Samstag nie mehr so gefordert und genutzt worden wie zu Stiskas Zeiten von Wolfgang Bellach, dem Bühnenbildner des ersten Rings nach der Wende. Jetzt war Stiska extra aus Berlin angereist, um zu sehen, was vor zwei Jahrzehnten vielleicht versäumt worden war. Er hat recht daran getan…
Dieser „Mefistofele“ ist nicht nur eine Entdeckung für Chemnitz. Er wird Referenz für alle weiteren Boito-Aufführungen haben. Wetten?
Die nächsten Vorstellungen: 5. und 27. Oktober, 16. November und 20. Dezember