„Schneekönigin“: Nicht nur für einen Winter

Da ist die Geschichte, das Märchen von Hans Christian Andersen aus der Biedermeierzeit. Damals hatten Omis noch Zeit zum Erzählen, auch wenn die rotbäckigen Enkel nein, gar nicht einschlafen wollten. Gut, dass Jewgeni Schwarz 1939 in Leningrad (heute wieder St.Petersburg) aus der langen Erzählung eine knackige Bühnenfassung gemacht hat, in der Bös und Gut, Glück und Gefahr härter, plakativer aufeinander treffen, damit es auch jeder versteht, und das Bibbern auf den guten Ausgang noch spannender wird. Wir, auch die Kinder, haben keine Zeit mehr für Epen, und kaum noch Omas, die Geschichten erzählen, die die Enkel hören wollen. Ein Film auf dem Flachbildschirm dauert 90 Minuten. Und Mami und Papi haben ihre Ruhe. (Die Schneekönigin wurde in den 60-er Jahren einer der schönsten Märchenfilme in Russland, das damals nicht mehr und noch nicht wieder so hieß).

Heute brauchen Omis nicht mehr erzählen. Zumindest nicht die Geschichte von der bösen brrrh-kalten Eiskönigin, dem leichtsinnigen Kai und der lieben Gerda. Heute können sie in die Oper gehen, wenn sie in Chemnitz und im Erzgebirge leben, samt Enkelkindern (und deren gestressten Eltern). Und die werden alle ihre Freude haben.

Da pfeift der Kritiker darauf, hinzuschreiben, was er sich ausgedenkt, was die Macher des Märchenballetts sich wohl gedacht haben (könnten) – das hat im Übrigen Jón Philipp von Linden, der Dramaturg, wieder höchst lesbar ins Programmheft geschrieben. Und wieso die Tänzer nicht aufhören, wenn die Musik aufhört. Und warum die Robert-Schumann-Philharmonie nicht auch die Filmmusik von Gorán Bregovič gespielt hat, obwohl sie in dieser Saison ein ganzes Sinfoniekonzert mit Filmmusik bestreitet, das sogar der Intendant höchstselbst moderiert.

So lieb, die Kleinen

Nö. Er hört einfach ins Publikum. Und nimmt ein Rauschen wahr, wenn die Kinder auf die Bühne kommen. Ein Murmeln im Publikum. So lieb… Die Kleinen, von sechs an aufwärts. Ein Junge, der Jüngste von allen, 15 Mädchen… Monatelang haben sie geübt mit Sabrina Sadowska, der Ballettbetriebsdirektorin. Und die Mütter haben sie gefahren, aus Annaberg und sonst wo herunter, wo selbst Kinder wissen, wie kalt es werden kann im Winter. Und wie dann selbst die Rosen bibbern. Was war das für eine tolle Idee, den Rosenstrauch aus den Kindern (und einem Profi: Lucia Giarrantana) darstellen zu lassen.

Und Kompliment an Sabrina Sadowska (aus Basel. Da gibt’s normalerweise keinen Schnee…). Mit 60 Kindern hat sie angefangen. Jetzt sind es 120, die im Kinderballett regelmäßig mit üben. Warum, zum Teufel, wird so oft vergessen, was die Chemnitzer Theater sonst noch machen: Für Bildung. Wissen, Kultur. (Und, nebenbei, gegen den überall beklagten Jugendspeck.)

Wieder auf die Bühne: die Profis sind sich nicht zu schade, Märchen zu spielen. Richtige Märchen. Auch Strawinsky und Tschaikowsky haben Märchen geschrieben. Aber nicht so liebe, so zauberhafte, so einfache, so verständliche. Die Profis der Chemnitzer Kompanie bewegen sich in höchster Präzision der Schritte. Wenn’s sein muss, und Reiner Feistel das will, auch mal kurz auf Spitzen. In schwierigen Ensembles. Mit Klamotten (Stefan Wiel), die in der Bewegung stören, aber passen, besser als die Faust aufs Auge.

Dialoge als Pas de deux

Noch schöner, wenn sie die Dialoge (von Jewgeni Schwarz) übersetzen in Pas de deux. Keines Wortes bedurfte es. Jeder hat gespürt, was es der Irokesenschnitt-Pippi-Räubertochter, die nicht Ronja heißt, sondern Isabel Dohmhardt, für Herzschmerz bereitete, die eben gewonnene Freundin (die erste, die sie wohl je hatte) loszulassen, damit die ihren Kai retten kann. Oder wenn Emilijus Miliauskas, das Rentier, die halberfrorene Gerda über seinem Rücken rettend wärmt.

Erkan Kurt ist der Geschichten-Erzähler. Den hat Jewgeni Schwarz dazu erfunden. Aber den braucht‘s im Ballett ja eigentlich nicht. Hat ja nichts zu sagen. Doch hat er. Schiebt die Bilder, die Szenen vor sich her. Wie einer früher die Dias weiter schob, als Omi noch erzählte, und es noch keine Apps gab, die die Urlaubsfotos vom Handy direkt auf dem Bildschirm landen ließen.

Feistels „Schneekönigin“ ist einer Revue ziemlich nahe, Bild reiht sich an neues. Bilder erzählen Geschichte(n). Weil mensch schneller kapiert, was er sieht, als was er hört. Dicke Bücher verstauben im Schrank. Schnelle Schnitte wollen unsere Augen. Der Märchenerzähler bringt sie uns.

Und er ist der Gute. Hat was, wenn man sich auf jemanden verlassen kann. Gerade, wenn so ein Böser, der Kommerzienrat (tolle Präsenz in jeder Phase von Leonardo Fonseca), ständig als Drohung  der „Schneekönigin“ durch die sich heilen wollende Welt schmirgelt, wie weiland die drei Damen der „Königin der Nacht“.

Ohne falsche Romantik-Schminke

Mozart hat mit der „Zauberflöte“ ein Singspiel gemacht, ein deutsches! Weil das Publikum das höfische italienische Opern-Antiken-Pathos satt hatte. Körpersprache ist noch direkter, weil Kuss weltweit Kuss ist, wie auch immer er heißt. Ein Ballett kann „große Oper“ sein, weltmeisterliches Bolschoi-Tütü, kann aber auch eher Musical sein wie die „Schneekönigin“ in Chemnitz. Und viel mehr Spaß machen.

Mozart-Musik hätte

Die Figurine der Schneekönigin (Stefan Wiel)

n die Macher auch auswählen können. Haben sie nicht. Schubert haben sie sich rausgesucht. Nicht die bekannten Schmachtfetzen wie in Bertés „Dreimäderlhaus“. (Zumindest fast nicht). Dafür frühe Sinfonien des noch heißblütigen Wieners. Der im bösen Stampfen eines Ländler-Menuetts Böses auf der Bühne ebenso verböst wie seine Trios streicheln können. Einfach so. Tom Bitterlich „diente“ mit der (klein besetzten) Robert-Schumann-Philharmonie der Bühne. Wenn Gerda Kai gefunden hat und ihre Wärme sein Eisherz taut, muss der Graben nicht noch zusätzlich schluchzen und Rieu-Vibrato und –Riterdando auflegen. Diese Romantik-Schminke braucht Bitterlich nicht. Und die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne erst recht nicht.

Einfach, und einfach toll

Das Ganze würde natürlich nicht funktionieren ohne die wunderbaren Bilder, die Zauberer Stefan Wiel auf der Bühne in natura und per Video entstehen lässt. Atmosphäre pur. Das kuschelige Dorf zu Beginn, die Kälte (die Harfenkristalltöne lassen zusätzlich frieren), der Schneesturm, die Garde-Kinder, die Räuber – wunderbar. Vier oder gar fünfmal müssen sich die Tänzer und Tänzerinnen umziehen – in neue, fantastische Kostüme stecken. Und ganz andere Typen tanzen und spielen.

Nur eine nicht. Die Schneekönigin. Sie darf immer in ihrem prachtvoll kalten Schneewolkenglitzerkleid tanzen. Das Stück heißt nach ihr, aber sie darf nur wenig auftreten. Desto mehr beeindruckt Valerija Frank. Mit ihrer Erscheinung, aber auch mit der perfekten Bewegung einer zauberhaften, vom Wind gerissenen Wolke am Himmel. Königlich.

Mindestens so beeindruckend Gerda, das einfache Mädchen im schlichten roten Kleid. Tarah Malaika Pfeiffer hat alles drauf, was eine gute Ballett-Tänzerin ausmacht. Aber sie muss sich immer „einfach“ bewegen, muss das Elegante vermeiden, weil man ihr sonst das Mädchen vom kuscheligen Dorf nicht glaubte. Klasse. Verdienter starker Beifall für sie. Und ihren Kai (Florian Seipelt).

Der Theaterförderverein hat für die Ausstattung des Balletts mehr als 10.000 Euro aufgetrieben. Sabrina Sadowska verneigte sich bei der Premierenfeier vor einem „solch tollen Förderverein“. Danke zurück. Für einen märchenhaften Abend. Der Einsatz hat sich gelohnt. Aus dieser „Schneekönigin“ könnte eine wunderbare Tradition entstehen…

(Im Programmheft ist ein Schneekönigin-Würfelspiel für die ganze Familie abgedruckt. Ausprobieren!)
Die nächsten Vorstellungen: 15. und 21. November, 19.30 Uhr, 23. und 30. November, 15 Uhr.