Die tote Stadt: Helen Malkowskys Traum der Fantasie

Vorab (Verzeihung Frau Malkowsky, Sie kommen später wieder zu Wort): Es wurde Zeit, dass Korngold mal wieder in Chemnitz gespielt wird. Beermann lässt ihn diese Spielzeit mehrfach im Sinfoniekonzert erklingen. Spannender aber, dass jetzt die Oper wieder auf die Bühne kommt. Sie sagt viel aus über Chemnitz. Aber hej, Ihr Chemnitzer Banalmasochisten und Oberjammerer, nicht weil Chemnitz eine „tote Stadt“ wäre (dass nicht, hättet Ihr z.B. am Samstag erleben können), sondern weil Chemnitz mal ganz vorn mitspielte. Und da wieder hin will.

Dresden abgehängt

Die Uraufführung der Oper am 4. Dezember 1920 war nicht in Wien. Auch der Broadway schickt neue Produktionen schließlich erstmal in die Provinz. Also zuerst Hamburg und Köln. Dann erst die Adelung in Wien. Kurz darauf Wiesbaden (Geld da), Karlsruhe (zehrte noch vom Großherzog), Dessau (Bauhaus-Freunde), die Met in New York und – Chemnitz! Am 7. Dezember 1921 fand die Premiere statt. Nach hartem Kampf hatten die Chemnitzer die Dresdner um drei Tage abgehängt (sächsische „Nachpremiere“ in der Semperoper erst am 10.12.). Die Leipziger wachten erst ein Jahr später auf, die Berliner gar drei Jahre danach. Da hatte Plauen (am 8. April 1924) bereits seine Korngold-Goldstunde erlebt…

Korngolds Goldjunge für die Partie des Paul war Richard Tauber, Sohn des Operndirektors in Chemnitz (wo er sie später auch gesungen hat). Die Stadt hat den Taubers ein kleines Sträßchen beim Theater gewidmet, eine Hauptstraße wäre ziemlicher. Ja, von dem Mann mit den Chemnitzer künstlerischen Wurzeln, vielfach als Operettenschnulzi verschrien, stammt – bis heute! – die Referenzaufnahme für diese extrem schwierige Tenor-Partie („affenartig schwer“, drückt Beermann es neuspeechmäßig aus). Sie entstand 1924 bei jener Berliner Aufführung. Seine Maria/Marietta war die damals bekannteste Sopranistin der Welt: Lotte Lehmann… (Beispiel auf YouTube). Zum Träumen schön.

Freud macht sich nicht überflüssig

Zurück zu Frau Malkowsky. Wenn man einen Traum inszenieren will, hat man im Prinzip zwei Möglichkeiten: man zeigt den Traum als optisch fette (Theater-)Wirklichkeit (und sei sie noch so „bitter“), oder man belässt es bei deutender Traum-Unschärfe. Der Traum deutet sich quasi selbst. (Was es bei Freud, dem hier so oft Bemühten, nicht gegeben hätte. Wär er ja blöd gewesen, hätte sich selbst überflüssig gemacht…) Helen Malkowsky entschied sich für die zweite Variante. Sie hat Gründe für die Kammerspielvariante: Symbolismus, Mystizismus waren damals en vogue.

Und so wandert der Stuhl mit den Rosen als Symbol die Wand hinauf, angestrahlt, wenn Paul lieb und katholisch ist und seine Marie nicht betrügen will, Licht aus, wenn ihn irdisch feuchte Lust auf Marietta überkommt. Und so wird in mystischer Verwirrung aus dem „süßen Heiland mein, einst wird ich um dich sein“ (singt der Kinderchor) die süße Maria, für die symbolisch (Blümchen-)Kleid und (roter) Schal gen Himmel fahren – göttlich, anbetungswürdig.

Orgasmus für Mystiker

Himmelfahrt. Da ist, sorry, eine kleine Korrektur des überaus lesenswerten Essays von Jón Philipp von Linden im Programmheft vonnöten (danke für die –bei deutschen Opern ungewöhnlich, aber zuschauerfreundlichen – Übertitel in – neu!- sehr lesbarer Serifen-Schrift). Bei der „heiligen Prozession“ handelt es sich nicht um die Fronleichnamsprozession (da verehren die Katholiken den Leib Christi), sondern um die Heilig-Blut-Prozession am Himmelfahrtstag! Die Heilig-Blut-Basilika ist die wichtigste Kirche in Brügge (dem Ort des Geschehens). Und die Heilig-Blut-Prozession ist seit Jahrhunderten die wichtigste Prozession in der Stadt. Da wird die Heilig-Blut-Reliquie (soll Blut Christi enthalten, das unter dem Kreuz aufgefangen worden sein soll. Viele berühmte zeitgenössische Darstellungen…) unter dem Baldachin mitgeführt und dem Volk gezeigt.* Blut bleibt auf der Erde, Christus fährt gen Himmel – der rote Schal Marias und die roten Bänder der Nonnen: Blutsymbole, Auferstehung verheißend: der pure Orgasmus für Mystiker. Und Symbolisten.

Das passt zur Inszenierung von Helen Malkowsky haarscharf. Die Korngolds, Vater und Sohn, hätten das damals nicht gewagt und nicht gewollt. Sie waren Rampensäue, wollten dem Affen Zucker geben. Das Publikum sollte ihnen aus den Händen fressen. Sie verstanden etwas von Marketing, vom Wecken von Wünschen und Emotionen. Der Vater, gehasster und geliebter Musikkritiker, und der Sohn – erste Komposition mit acht in Wien. Mit 23 schon die dritte Oper! Sensationell! – schrieben wirkungsbewusst das Libretto selbst. Unter dem Pseudonym Paul Schott. Paul, weil so die Hauptfigur heißt, und Schott, weil man einen geneigten Verleger brauchte (Schotts & Söhne). Der Sohn ließ (Uraufführung in Hamburg!) in den Walzer den Schlager „Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins“ anklingen, und die Kölner (Uraufführung am selben Tag!) lockte er mit der Verbeugung „Ein Deutscher bist du, bist vom Rhein“ (Marietta zu Fritz).

Musik führt die Regie

Um es auf den Punkt zu bringen: Korngold macht musikalisch ein Fass auf. Egal jetzt mal, dass er viele beutende lebende Komponisten, auch die Zwölftöner, anklingen lässt, aber immer in der tonalen Spur bleibt: Seine Musik führt Regie. Tausende von Noten quer durch alle Tutti-Stimmen illustrieren das „flutende Meer von goldenen Messgewändern“ bei der Prozession, „und zwischendurch, Blutstropfen gleich versprengt, das Chorhemdrot der Sängerknaben… Berauschend wogt die farbige Flut…“ Und die Musik dazu.

Nicht bei Malkowsky. Da ist die Prozession nur (schwarze) Ahnung. Sie bringt nicht die Prozession in voller Farbenpracht auf die Bühne. Sie lässt die Nonnen nicht tanzen, sondern an Krückstöcken schlurben. Die Musik ist Chef im Ring. Sie wird schon die Fantasie in den Köpfen des Publikums anregen…

Maßflanke für Beermann und die Philharmonie

Beermann bedankte sich für diese Maß-Flanke der Regie. Der GMD und die Robert-Schumann-Philharmonie waren die eigentlichen Stars des Abends. Mehr als zwei Stunden höchste Konzentration, hunderte komplizierter Einsätze, immer extreme Rücksicht auf die Sänger, hörbar selbst die zartesten Lautenzupfer, die Harfenstreichler, die kleinen Soli (Schill, Tylman). Fast kitschig schön die Begleitung zu Mariettas „Mein Sehnen, mein Wähnen“, unkitschig beschleunigt das „Gück, das mir verblieb“ (eben höre ich kurz vor eins auf klassik-Radio eine Chillkitsch-Instrumental-Version: zum K…, wenn man das gestern erlebt hat) – damit das Drama regiere, nicht die Stimmbänder der jubelheischenden Sängerin. Korngold hat später für viele Hollywood-Filme die Musik geschrieben. Die Robert-Schumann-Philharmonie spielte am Samstagabend im Graben wie das beste Hollywood-Filmorchester der Welt.

Und die Sängerinnen und Sänger waren klasse. Niclas Oettermann ausdrücklich eingeschlossen. Sein „Paul“ klang am Anfang gestresst. Kein Wunder.  Erst am Montag war der Schwarzwälder eingesprungen für Markus Petsch, den sympathischen Österreicher, dessen Stimme trotz aller Hoffnungen, zu seinem größten Bedauern  in der langen Probenzeit nicht auf Trab kommen wollte. Oettermann, von Tanja Hofmann wie die anderen Darsteller (außer der farbenprächtigen Tänzertruppe) in heute augenmordende Opernentstehungszeitkostüme gesteckt, wagte die gewagtesten Höhenhöhen meist mit Erfolg, kümmerte sich zwangsläufig mehr um den Gesang als das Spielen (das kommt in den nächsten Aufführungen) und lieferte einen Paul ab, der in dieser „affenschweren“ Rolle alle, aber wirklich alle Hochachtung abnötigt.

Marietta Marion Ammann, Züricherin, ist keine Hüpfinsgras-Heidi. Sie ist – das kommt der Regie zupaß – die didaktische Verführerin. Die Intellektuelle unter den spinnerten Mystikern. Sie ist die Über-Maria, die Gottes- (oder Göttinnen?) Sehnsucht pur – mit einer Stimme, die die Ohren anstrengen lässt, dass man keinen Zwischenton verpasst, auch wenn das Orchester volle Pulle spielt. Sie hatte Schiss vor der Rolle, bekannte sie beim Opernfrühstück. Aber, Gott, wie gut war sie dann am Samstag. Beermann hat ein Händchen…

Fritz (und Frank) sang Klaus Kuttler. Junge, kann der sehnen und wähnen! Dieser runde, nie gequälte Bariton: bitte, lasst ihn uns öfter hören.

Tiina Penttinen erhielt Sonderbeifall. Zu Recht. Die chemnitzer Finnin überzeugte als Brigitta wieder auf der ganzen Linie, sängerisch und spielerisch. (Wie übrigens alle Chemnitzer Akteure spielerisch mehr überzeugten als die Gäste!). Ihre Brigitta, ihre Nonne – gut, dass wir sie im Ensemble haben.

Yang, Riemer, Randall – wir kennen sie, wir lieben sie. Mit ihrer Gastkollegin Carolin Schumann machten sie jeden Auftritt – nicht nur – zum optischen Gewinn. Wobei Korngold es Ensembles nicht leichter macht als den Solisten…

Nicht zu vergessen die liebe kleine Amalia Sophie Krupa (die – symbolisch! – die Kinder hinter den Kulissen vertritt), profihaft als weißer Unschulds-Engel. Schüchtern altersgemäß erst beim Beifall…

Die Chöre, kostengünstig und der Regie-Intention folgend (win-win-Situation im Management-Sprech) meist hinter der Bühne müssen bei Korngold in den wenigen Szenen, da sie was zu singen haben, da sein. Augenblicklich und voll. Sonst ist die Atmosphäre hin. Waren sie. Simon Zimmermann hat einen guten Job als Chorleiter gemacht.

Bleibt für den geneigten Leser, der bis hierhin durchgehalten hat, die Frage, wie sich der offensichtliche Widerspruch zwischen eher mystisch-symbolisch intellektueller Kammerregie und kraftprotzender, dominierender Musik klaffende Widerspruch auflöst.

Stilltotes Traumwasser

Da kommen Harald B. Thor ins Spiel, der Bühnenbildner, und sein Lichtgestalter Holger Reinke. Sie zauberten unvergessliche Bilder. Sie ließen das Wasser von den zerfallenden Wänden des toten Zimmers rinnen, bis es – stilltot ruht der Verfallsee – auf der Bühne schwabbert (etwa 3 Kubikmeter nicht gewärmt, brrrh… trotzdem Hut ab vor den Theater-Technikern), auffordert zum Rettesichwerkann. Ob er sich rettet ans feste Ufer oder nicht, das spielt letztlich keine Rolle mehr. Pauls Bild mit den Rosen bleibt hängen von dieser Aufführung. Da wir Kammeroper zum bleibenden Hollywood-Bild.

Helen Malkowsky muss nicht mehr träumen. Nach „Don Carlos“ ist ihr in Chemnitz wieder Beachtenswertes geglückt. Viel Beifall auch für sie und ihr Team. Ganz viel aber für Beermann und seine Philharmonie. Wir freuen uns auf die Sinfoniekonzerte. Mit Korngold. Dem Sucher nach Harmonie, Tonalität, Neuem. Dem eigentlichen Träume-Fantasten und –Erfüller.

*“O süßer Heiland mein, wir, deine Kinderlein, geleiten treu und gut, dein kostbar heilig Blut“, singen die Kinder

Minutenlanger Beifall: Christiane Dosts Foto auf Facebook

Inhalt:

Für die, die den Samstag verpasst haben, kurz der Inhalt: Wunderschöne Frau stirbt. Mann kommt nicht darüber hinweg. Verehrt ihr Bild in einem abgeschlossenen Zimmer. Lernt – beim seltenen Luftschnappen – eine Tänzerin kennen, die seiner Ex auf’s Auge gleicht. Verfällt ihr. Versündigt sich damit. Bringt sie um mit der als Reliquie verehrten blonden Haarpracht seiner Ex. War alles nur Traum. Erwacht. Und merkt, dass selbst stirbt, wer zu sehr dem Tod nachhängt.

Die nächsten Vorstellungen: 31.Oktober, 9.November, jeweils 15 Uhr
Ein mdr-Video sehen Sie hier