„Ich habe manchmal ganz vergessen, dass ich im Theater sitze“, sagte ein Besucher nach Ende der Vorstellung. Gibt es ein besseres Kompliment für die jungen Schauspieler, die gerade mal ein paar Wochen in Chemnitz leben, sich daheim noch kaum richtig eingerichtet haben, aber auf der Bühne agierten, als wären die Bretter der Welt schon hundert Jahre die eigenen?
Dass die Produktion viel versprach, zeigte sich am „großen Bahnhof“. Intendant da, Schauspieldirektor, Marketingchef, Pressechefin, der Leiter des Besucherservice – ein Ereignis warf seine Schatten voraus. Es wurde eins. René Schmidt und Kathrin Brune, die Dramaturgen und Studio-„Eltern“, haben mit ihren Schützlingen in den paar Wochen ganze Arbeit geleistet.
Sie haben ein Stück gewählt, das den vier Studenten auf Leib geschneidert ist. Gar nicht so leicht, das passende Vier-Personen-Stück zu finden, das auch noch beim Publikum zieht. „Die Schmerzen der Krieger“ von Oliver Pautsch ist so eines. Ewige Themen – oder ist es nur eins?: Wie stark ist der Magnet Sex? Darf Gutmensch einen Mörder lieben? Leidet Schwachmensch nur unter Gewalt, oder bewundert er sie heimlich? Bleibt der edle Ritter (der „Krieger“) edel, wenn ihn die Holde enttäuscht? Gibt es sensible Mörder? Seelische Handtücher mit dem Revolver bei der Hand?
Wir verraten hier die Geschichte nicht. Ist beim Krimi immer blöd, wenn man den Schluss schon kennt. Aber eine Frage werden sich auch die Zuschauer der nächsten Vorstellungen stellen: ist Hauptfigur Alex ein Mörder, ein Massenmörder gar, wie jener Österreicher Jack Unterweger, dessen Geschichte dem Plot von Oliver Pautsch so ähnlich ist? Kathrin Brune hat in einem sehr lesenswerten Essay im Programmheft untersucht, warum manche Frauen vor Gewaltverbrechern sehnsuchtsschmelzen. Oder ist er nur ein Psychorättinenfänger, der mit „seinen dunklen Geschichten“ seine schutzversprechenden Duftstoffe sprayt, denen all die In-den-Arm-genommen-werden-Wollenden und An-der-starken-Brust-Heimeligkeit-Ersehnenden rettungslos erliegen?
Die Sprache folgt dem Gesetz der Straße. Nicht tatort-stylisch, sondern so, dass sie den Protagonisten locker ungeschauspielert über die Lippen flutscht. Sie ist so echt und grob, wie das karge Bühnenbild (Frank Heublein) wirkt, das stark ist wie die Türen, an denen man sich, wumm, eine blutige Nase holen kann, ohne dass die Kulissen einstürzen. Die Videos (Anja Vogel) schaffen Atmosphäre, symbolisieren, wie das Schummerrot in der Bettszene hinter den Gazevorhängen.
Der Ahnung steht die Realität in Armlängennähe gegenüber. Das Publikum sitzt auf beiden Seiten der Bühne, bildet quasi die beiden fehlenden Wände des Raums, die alles sehen. Jede Kleinigkeit. Die nutzlosen Revolverkugeln genauso wie die Schweißperlen der Schauspieler. „Ganz vergessen, dass ich ja im Theater sitze…“ Ja. Das Publikum ist Bühne, um nicht zu sagen, was geschieht, spielt sich in ihm selbst ab. Gut. Einfach gut, was sich René Schmidt, der Regisseur, da ausgedacht hat.
René Schmidt, der zusammen mit Kathrin Brune die Studenten betreut, kennt seine Pappenheimer. Da kommen vier junge Leute aus Graz und Linz nach Chemnitz. Kennen sich kaum. Standen noch nie miteinander auf der Bühne. Müssen sich trotzdem an die Wäsche gehen und nahnahnahkommen. Die brauchen Freiheit, um Aufregung abzureagieren, dürfen auch ein paar Mal zu viel an die Wand donnern (Gott sei Dank sind Dockers gegenüber den Tretern von Hanna und Alex wie Ballettschühchen, sonst hätte man um die Knochen der Beiden fürchten müssen), sie dürfen auch mal zu laut schreien und alles an Wut geben – dann gelingen die leisen Szenen desto besser. Alter Fuchs, der junge René Schmidt.
Andererseits hatte er es leicht mit seinen Schauspielern (erfrischend die schriftlichen Selfies statt müder Biografien im Programmheft). Die beiden Damen kommen von der Anton-Bruckner-Universität Linz, die beiden Herren von der Kunstuniversität Graz. Ganz unterschiedliche Typen, aber klasse, jede(r) für sich. Jetzt schon.
Da ist Linn Sanders. Klein, zierlich. Sie spielt die Hanna, mit Muskeln (und Schuhen, die halb so schwer wirken wie die ganze Person), mit ängstlicher Verzweiflung und Riesenaugen gegenüber dem auf die Stirn gesetzten Revolver, mit görenhafter Kanonade, als sie entdeckt, dass er nicht geladen ist, lolitaschnurrend an der starken Brust. Stark, auch in der Schwäche.
Da ist Patricia Windhab (Katharina). Die Psychotante mit strenger Brille, die herrschen will, selbst auf der Freud-Couch (und im Bett) landet, die anderen beibringen will, sich selbst zu erkennen, sich selbst aber nicht kennt. Die nach Hilfe schreit, ohne dass es jemand hört, bis sie (Tagebuch schreiben Mädchen heute nicht mehr) per Box digital die Lösung sucht (die wir ja nicht verraten wollen). Wandlungsfähig, in Reden und Machen.
Da ist Christoph Radakovits. Geprügelt (als Marc), zittriges Weichei (beim Handy-Anruf), gleichzeitig Herrscher gegenüber der Psycho-Domina (als Peter). Fast beängstigend, wie in der Psychoszene die Seiten gewechselt werden, wie der Weithosen-Unmodern-Underdog der Modisch-Verkleidungs-Intellektuellen („weil ich studiert hab“, führt sie mal als Begründung an) zeigt, wo der freudsche Hammer hängt. Faszinierend, mit Blutschnauze und als Hirn-Mephisto.
Und da ist Dominik Förtsch. Der Tattoo-Alex von der Straße, wie man ihn sich nicht besser vorstellen kann. Brutal. Sensibelchen. Der Serienmörder (?), der Wut kriegt, wenn jemandin ihm Böses unterstellt oder sich illoyal von ihm wegstehlen will. Der Bullenkraft einsetzt und Schafswollzärtlichkeit. Der sich auskotzt und vor Sehnsucht leidet wie ein Hund. Das Publikum liebt ihn für seine ehrliche Echtheit wie ihm die Frauen im Stück verfallen. Großartig, vom strotzenden Beginn bis zum armseligen Ende.
Eine starke Stunde. Nicht nur die Spieldauer. Wir freuen uns auf die vier, auch in anderen Produktionen.
Das Video zur Aufführung