Heißer Odem – ein Geiger, zwei Chöre

Ich stelle mir vor: Ich habe den ganzen Tag malocht. Bin geschafft. Aber abends ist Probe in der Kreuzkirche, im Gemeindesaal. Mehr als hundert Leute drängen sich dort. Die Kantorei der Kreuzkirche und der Opernchor. Die Luft ist zum Schneiden. Und ich muss Schönberg singen. Sein „Friede auf Erden“ beschert mir keinen Frieden. Diese Noten sind so ungeheuer schwierig gesetzt. Ich verstehe sie, aber ich muss sie „buchstabieren“ – es fällt mir schwer, Motive, Wörter zu identifizieren. Diese Sprünge, diese Tonfolgen, die nicht ins Ohr gehen wollen, diese extremen, oft kalt platzierten Höhen, mit denen sich die Kolleginnen im Sopran abmühen. Puh. Das soll „Friede auf Erden“ sein?  Ob sich Conrad Ferdinand Meyer eine Vertonung seines Weihnachtsgedichts so vorgestellt hat?, frage ich mich.

So oder ähnlich dürfte es dem einen oder anderen Sänger der Kantorei der Kreuzkirche in den letzten Wochen gegangen sein. Und auch die Profi-Kollegen vom Opernchor, die schon mal zwischen Russisch und Italienisch switchen und dann noch modernistische Schweitzerische „Südseetulpen“ knicken müssen, dürften mit dem Schönberg auch nicht sofort Freundschaft geschlossen haben. Aber da gibt es ja den Motivations-Weltmeister Steffen Walther, den Kantor der Kreuzkirche, und Stefan Bilz, der den Opernchor einstudiert hatte.

Kurzum: Was die beiden Chöre leisteten, hätte auch Schönberg gefallen. Nicht so ganz zufrieden wäre er gewesen, dass die Chemnitzer die Orchesterfassung gewählt haben. Die hatte Schönberg nur dazu komponiert quasi als Geländer, an dem sich die Stimmbänder festhalten können, weil der Wiener Singverein vor der geplanten Uraufführung hinschmiss: Zu schwierig a capella (ohne Orchester), das Urteil eines der schon 1908 besten Chöre der musikalischen Welt. Klar. Bei solchen Tonsprüngen ist nicht jede dynamische Feinheit justierbar, da dringt’s denn schon mal sehr laut aus den Kehlen. Wie auch immer: große Leistung. Schade, dass Stefan Bilz den verdienten Beifall-Lohn für seine und seines Chores Mühen nicht in Empfang nehmen durfte. Hätte er sich bestimmt nicht entgehen lassen. Aber er lag im Krankenbett. Und so freuten sich sein Assistent Pietro Numico und Steffen Walther über die Zustimmung des Publikums wie kleine Kinder. Hut ab vor dieser Leistung von den Chören und den Chorchefs.

Der Beifall auf sie prasselte nach dem Mendelssohn. Verständlich. Das war nun Wohlfühlmusik par excellence. Dieser „Lobgesang“ lässt sich auch nach einem stressigen Arbeitstag uneingeschränkt loben, da kommt man gern zur Probe und freut sich riesig bei der Aufführung. Der Schönberg sei das letzte tonale Werk des späteren Zwölftöners gewesen, sagen die Experten. Stimmt wohl. Aber was tonal ist, und welche Harmonien, Fugati, Dur-Moll-Wechsel wir als schön empfinden, ließ das Publikum mit seinem lang anhaltenden Beifall, der auch dem Komponisten, nicht nur der großen Chorleistung, galt, spüren. Wahrscheinlich sind die meisten von uns musikalisch doch unverbesserliche Romantiker. Das Duett zwischen der hellen, flexiblen, wunderbar auch im Piano klingenden Stimme von Fatma Said und der so wunderbar angenehmen, runden und herrlich unprätentiösen Barbara Senators  (sie war kurzfristig in die undankbare Partie – der Sopran II hat nur diese einzige Nummer zu singen – eingesprungen) war zum Träumen schön. Und auch der (ebenfalls nicht viel länger vorher krankheitshalber verpflichtete) Tenor Jörg Dürmüller überzeugte – ob mehr als Bachscher Evangelist (den Mendelssohn bestimmt im Ohr hatte) oder in den Arien.

Und doch: die Chemnitzer mögen auch das Neuere, einen Schostakowitsch etwa. Einige Werke des russischen Komponisten bilden einen Schwerpunkt der Konzert-Programmgestaltung dieser Spielzeit. Schostakowitschs Violinkonzert ist 50 Jahre alt. Als David Oistrach die Uraufführung spielte, war Kolja Blacher gerade mal vier Jahre alt, hatte zwar von seinem Komponisten-Vater Boris Blacher wahrscheinlich schon das eine oder andere musikalische Kabinettsstückchen mitgekriegt, aber von dem großen Russen wahrscheinlich null Ahnung.

Und jetzt spielte er das Konzert wie ein junger Gott, dieses Kompendium von Spannung und Loslassen, von gehackten Doppel- und Dreifachgriffen und berührender Melodik (Kadenzen), von Zwiesprachen (mit Horn, Tom tom und Pauken) und Verliebtheit in die eigene Seele, von Hektik und Entschleunigung. Blacher hat das Werk, das nur ein Profi auf den ersten Blick lesen kann, absolut drauf. Er hat es sich, das sieht man den Noten an, schuftend erarbeitet. Und so klingt die Stradivari, als sei sie 1730 nicht für Musik des Zeitgenossen Vivaldi gebaut, sondern direkt für den Russen aus dem 20. Jahrhundert. Blacher blendet nicht mit vorgeblicher Virtuosität. Aber wie er sich in höchste Lagen der tiefen Saiten versteigt, um den Ton noch runder, dynamischer, voller zu machen – das ist nicht nur technisch perfekt, das ist Klangzauber pur.

Die Robert-Schumann-Philharmonie spielte an diesem Abend nur die dienende zweite Geige – für den Solisten und die Chöre. Das aber in gewohnter Weise perfekt. Posaunen, Trompete und Hörner beim Mendelssohn – ein Genuss. Wiederum das (Solo-)Horn und die Holzbläser (Piccoloflöte!) beim Schostakowitsch. Zurecht dankte ihnen Felix Bender besonders. Der junge kommissarische GMD lässt auch wirklich keine Herausforderung aus – und er schafft sie scheinbar mit links. Hat sich bei den Chorproben mit hineingesetzt, weiß, wo und wie er zupacken und loslassen muss. Dirigiert den Riesen-Apparat ebenso präzise, wie er den Chor im kurzen Mendelssohn-a-capella-Teil bewegt. Meisterlich.

Das Konzert stand wie immer die März-Sinfoniekonzerte in Verbindung zum Friedenstag am 5. März. Aber das Publikum spürte darüber hinaus den heißen Odem von begeisterten und begeisternden Chören und einem großartigen Solisten.

PS. Der eine oder die andere haben gefragt, wer denn da am ersten Pult der ersten Geigen saß. Neuer Konzertmeister? Nö. Konzertmeister ist Ralf-Carsten Brömsel zwar, bei der Dresdner Philharmonie, und Prof. für Violine an der Musikhochschule der Landeshauptstadt auch. Er vertrat im 7. Sinfonie-Konzert die Konzertmeister-Kollegen der Robert-Schumann-Philharmonie Hartmut Schill und Heidrun Sandmann. Beide sind zur Zeit in Japan. Schill, auch erfahrener „Bayreuther“, hilft im Land der aufgehenden Sonne das „Rheingold“ entdecken, und Heidrun Sandmann ist vom Konzerthausorchester Berlin (bis 2006 Berliner Sinfonie-Orchester – BSO) für eine Japan-Tournee als Gast verpflichtet worden.