Malewitsch gehörte zur (oder war die) russische Avantgarde. Vor hundert Jahren war die Welt in Unordnung. Nicht nur des Zaren. Auch die der Kunst. Malewitsch & Co. hatten die Schnauze voll davon, dass Bilder immer seien oder sein sollten, was sie zeigten. Wie bei den Peredwischniki. Rezeption vorgeschrieben. Jeder wusste, was er sehen sollte. Malevitch verbannte die Realität, die höchste Kunst (lat.: suprema ars) würde dem Betrachter erlauben, zu empfinden, was er wolle. Dadurch würde er viel mehr Erkenntnis gewinnen als im Wirklichkeitsabklatsch. Und so wurde Malewitch der Erfinder des „Suprematismus“ und einer der Väter der abstrakten Kunst und der Monochromen und malte etwa ein Bild mit dem Titel „Weißes Quadrat auf weißem Grund“ (1919).
So ein monochrom weißes Bild mit weißen Streifen kauft bei Reza der Arzt Serge (Marko Bullack). Und hier, wie vor hundert Jahren scheiden sich die Geister an der Frage „Ist das Kunst, oder kann das weg“? Freund Marc (Philipp von Schön-Angerer), der Ingenieur (für ihn zählen Fakten), lacht sich halbtot: „„Für diese Scheiße hast du 200.000 bezahlt, 200 Riesen?“ 20 Jahre sind sie nun Freunde. Der vom lieben Chaoten und Clown-Spezi zum seriösen Papierhändler avancierte und deswegen endlich heiratsfähige Yvan spürt Gefahr und will die Freundschaft retten. Keine Chance, weil null Talent. Er kann noch nicht mal zwischen Braut und Stiefmüttern Einigkeit leimen.
Kunstvoll baut Yasmina Reza ihre Komödie auf, die letztlich mit Kunst so wenig zu tun hat, dass sie den Titel auch gleich in Anführungszeichen setzt („Kunst“ – das Programmheft verzichtet durchgängig auf diesen Nasenstupser der Autorin. Warum?) Mehr als 20 Jahre nach der Uraufführung in Paris (1994) zeigt sich: Was da abgeht, ist eigentlich die Frage nach dem Postfaktischen. Als ob Reza das Tumpeltier und das Unwort des Jahres 2016 vorausgeahnt hätte. Nicht mehr die Fakten spielen eine Rolle, sondern, wie man sie interpretiert. Immerhin erstaunlich. Als Reza ihren Welterfolg schrieb, machte in München Helmut Markwort mit einem neuen Magazin Furore. Sie erinnern sich? „Fakten, Fakten, Fakten“…
Eigentlich ist das Stück der Französin (irgendwie weigern sich die Finger, diese bitterbös wahre Satire „Komödie“ zu nennen) ein Kammerspiel. Es zeigt, wie aus einer Dreieinigkeit eine Dreieinzelkeit wird, wenn der Traum vom gemeinsam erlebten und gesehenen Peredwischniki-Bild platzt und jeder in dem Suprematisten-Quadrat etwas anderes sieht. Da erleidet die Freundschaft dann genauso Schiffbruch, wie der Glück-Fachbuch-Bestsellerautor Seneca („De vita beata“) mit seinen Erziehungsversuchen an seinem Zögling Nero schließlich scheiterte. Drei Personen. Ein Bild. Da braucht es eigentlich keine große Bühne. Der Ostflügel im Chemnitzer Schauspielhaus hätte gereicht.
Alexander Flache, der Regisseur, hat dort schon inszeniert („Zerstörte Seele“ 2015). Die Wahl der großen Bühne bringt mehr Zuschauer, gewiss (und die wird das Stück haben). Interessanter aber, wie Flache und sein Team (Petra Linsel, Bühne und Kostüme, und Marco De Haunt (Musik) mit der großen Form umgehen. Die Bühne, ganz in weiß. Sie dreht sich. Vor und zurück. Das weiße Bild teilt sich – die drei Protagonisten sehen nicht dasselbe (wie wir nicht in der anderen Wahrnehmungsmöglichkeit des Bildschirms an der Seite). Drei Leinwände von oben tanzen das Ballett der Dreieinigkeit und der Dreieinzelkeit, der Nähe und der Ferne der Freunde, Ex-Freunde, Halb-Freunde, Feinde. Die Musik fügt Fugen zusammen und trennt sie. Ganz. Teilweise. Die Formen werden aufgelöst wie dereinst bei den Suprematisten. Das Medium Bühne wird zur Botschaft – und damit sind Reza, Flache und dessen Team und wir bei Marshall MacLuhan, dem amerikanischen Wissenschaftler, der (The medium is the message) auf einem ganz anderen Gebiet, dem der Medien und der Werbung, zeigte, wie sich unsere Wahrnehmung durch neue Medien verändert. Wie durch ein weißinweißes Bild. Oder Twitter. Siehe Trump.
Yasmina Reza charmiert damit, dass Sprache sie mehr fasziniere als Inhalte und es „nicht ihre (der „Protagonisten oder Lieblingsfiguren“) Ideen oder Meinungen (sind), die zählen, sondern ihr Temperament. Meinungen von Menschen sind langweilig. Mich interessiert ihr Temperament. Ihre Nerven. Ihre Fähigkeit, das Leben zu ertragen…“ Was für eine Flanke für die drei Chemnitzer Publikumslieblinge Philipp von Schön-Angerer (Marc), Marko Bullack (Serge) und Christian Ruth (Yvan)! Schön-Angerer ist der pseudoselbstbewusste Marc, der lacht und lacht und lacht und gar nicht mehr merkt, dass die anderen nicht mehr mitlachen. Christian Ruth weint sich die Seele aus dem Leib, will mit Humor die Freundschaft retten wie der Clown, den man ans Krankenbett von kleinen Kindern schickt, um sie aufzuheitern. Doch gekränkter Stolz (Marko Bullack, der Serge) lässt sich nicht heilen: warum sind Freude nicht, wie ich sie haben will: pünktlich auf die Minute und mit meinem Blick auf das, was ich schön finde. Sie giften sich an, sie krabbeln geiferisch aufeinander zu, sie wollen ihre Freundschaft, sich selbst wiederhaben, doch sie hatten sich nie. Und am Ende ist alles gesagt, der Vorhang bleibt offen wie alle Fragen auch.
Die waren in herrliche Komik verpackt, in Wortwitze und alltäglichen Wahnsinn. Der von den „200 Riesen für diese Scheiße“ spielt irgendwann keine Rolle mehr. Diese bitterböse Komödie ist auch ein Lust-Spiel. Weil wir uns Rezas Anzug ja nicht anziehen müssen. Weil Lachen über Andere immer noch prustigschöner ist, als Lachen über sich selbt. Wie sagte eine Zuschauerin beim Rausgehen: „Gott, hab ich gelacht. Und mir sind gleich ganz viele Situationen bei Freunden eingefallen, die genauso abliefen.“ Bei Freunden. Bei Anderen…
Gutes Stück, interessante Inszenierung, großartige Schauspieler. Viel Beifall.
Und irgendwann ist es dann auch egal, dass eine Forschergruppe aus Trier als Zeugen für die „Fuge in weiß“ herhalten dürfen und nicht die Originale ein paar hundert Meter weiter drüben im Museum. So spielt halt manchmal der Zufall.
Die nächsten Vorstellungen: 18., 25. März., 1., 13. April