Die „Gespenstersonate“ gilt als einer, wenn nicht der Klassiker des modernen Theaters. Brecht hat seinen Strindberg gelesen. Und alle, die episches Theater machen, wahrscheinlich auch. Nun also dieser Klassiker der Moderne am Samstag zum ersten Mal in der Stadt der Moderne. Geschrieben zu einer Zeit, als in Chemnitz der erste Bau der Moderne entstand, die Villa Esche, und van de Velde den Bauherrn mit einem Maler in Kontakt brachte, der genauso jenseits des kaiserlich gutbürgerlichen Mainstreams dachte und arbeitete: Edvard Munch. Strindberg und Munch kannten sich. Diskutierten in Berlin Nächte lang über Gott und die Welt und Nietzsche und Okkultismus und Symbolismus und die Schatten der Sexualität. Strindberg hat Munch sehr beeinflusst. Oder war es umgekehrt?
„Was ist Wahrheit?“, fragt Pilatus den vorgeführten Jesus (Joh. 18,38). „Was ist Wahrheit?“ fragt Strindberg das Publikum seiner „Gespenstersonate“. Ist der Alte, Direktor Hummel (Glanzrolle für Bernd-Michael Baier) ein Gutmensch, der die Jungen, den Studenten (großartig: Karl Sebastian Liebich) mit der Tochter des Obersten, die eigentlich seine ist (auch stumm beeindruckend: Caroline Junghanns), in ein glückliches Leben führen will, oder will er sie nur beherrschen? Macht ausüben, Gott spielen? Herr sein über Leben und Tod? Hat er das Milchmädchen (Florentine Krafft – von der Schauspielstudentin des Studios werden wir noch viel hören und lesen) umgebracht (Strindberg bezeichnet die Rolle im Personenverzeichnis ausdrücklich als „Vision“) oder gerettet, wie er sagt? Ist der Oberst (auf den Punkt präsent, mit Orden an der Brust und in Unterhose: Tilo Krügel) ein Kerl, oder ein Weichei, das sich von der ehemals schönen Papagei-Mumie (grässlich schön Ellen Hellwig) ein Kuckucks-Kind unterjubeln hat lassen? Ist Bengtsson, der als Diener daherkommt, eigentlich der Herr, weil er alles weiß (arrogant servil: Hartmut Neuber)? Buckelt und beugt sich Johannson, der Ex-Buchhändler, vor seinem Herrn nur, um den aufrechten Gang nicht gehen zu müssen (eindeutig variabel: Dirk Lange)? Pilatus Strindberg.
Wahrheit ist, wenn alle lügen. Oder wenn alle gar nichts sagen und Kekse zwischen den Kiefern zermahlen, von denen sie nicht erbrechen müssen wie von den hunderttausendmal erzählten Märchen? Wenn man niemandem trauen kann, aber allen alles zutrauen muss (wie es Johannson über den Alten sagt)? Gespenstisch. Was sieht man im Spiegel: sich, oder nur den Schein von Ich? Lässt Zukunft eine Gegenwart ohne Vergangenheit zu? Kekslied ohne Worte. Gespenstersonate. Thema ohne Variationen. Wissen wir Publikum, was Wahrheit ist? Oder sind wir auch Gespenster? Strindberg ist unbarmherzig gegenüber seinem Publikum.
Faszinierend, wie Regisseurin Eva Lange die Mehr-Dimensionen auf die Bühne bringt – die „Vision“, die gurgelnd und mit verschmiertem Lippenstift die realste von allen scheint, der an den Rollstuhl gefesselte Alte, der wie ein junger Hüpfer auf seinem Rollstuhl herumtanzt, der Gar-kein- vielleicht-aber-doch-mal-gewesene Oberst, der sich mit jeder Enthüllung weiter bis auf die Unterhose entblättert (großartige Szene), der aber doch immer seine eigene Welt baut, indem er Linoleum-Fliesen unter seine Obristen-Füße legt, damit sie nicht Schütze-Arsch-Boden betreten müssen.
Passendes Bühnenbild von Gabriele Neubauer: Wo leben wir – im Palast, in der Platte, im Blumen-Paradies, unter dem gestürzten falschen Familienporträt oder im Augen-zu-Lügen-Wandschrank am Bügel?
Am Schluss setzt die Regisseurin noch einen drauf: Bei Strindberg endet die Reise der Tochter (Student: „Kind dieser Welt der Irrungen, der Schuld, des Leidens und des Todes, dieser Welt des ewigen Wechsels, der Enttäuschungen und Schmerzen! Der Herr des Himmels sei dir gnädig auf der Fahrt …“) auf Böcklins „Toteninsel“ (Regie-Anweisung: „Das Zimmer verschwindet; Böcklins Toteninsel wird zum Hintergrund; schwache Musik, still, angenehm trauernd, tönt von der Insel herüber“). Wie ganz zu Beginn lechzt der Student nach Leben, nach dem Milchmädchen, das eigentlich nur eine Vision ist, für ihn aber so real, dass er sie auf’s Kreuz gelegt hat (auch das steht nicht bei Strindberg. Aber Eva Lange hat das Stück konsequent bis in die letzten Details im Griff. Das alles hat Sinn).
Beeindruckendes Stück, große Regie, gute Schauspieler, eine Sprache, die jeder versteht (auch akustisch) – wow! Lübbes Mut hat sich gelohnt. Forderung erfüllt. Ob die vorgeblich Klassiker-Suchenden jetzt auch ihr Versprechen „wahr“ machen?
Nächste Aufführungen: 1., 15., 29. März, 12. April
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