Peter Eötvös erlebte selbst nach den beiden Festivalaufführungen in Wien und Budapest die erste Aufführung seiner Oper in einem Stadttheater. Das ist die härtere Prüfung, ob ein Stück ankommt oder nicht. Abonnenten, Menschen wie du und ich, sind meist kritischer als die eh pflichtbegeisterten Freaks auf Festivals. Ob ein Stück – viele Monate lang erarbeitet – nachgespielt wird und nicht nur ein Strohfeuer bleibt, entscheidet sich im Repertoire-Theater. Die Welt bedeutenden Bretter der Chemnitzer Oper sind da ein gutes Pflaster. Das hatte Eötvös schon bei „Love and other Demons“ erlebt, seiner Oper, die 2009 für große Beachtung in der Musikwelt sorgte.
Erleichtert saß der Komponist am späten Abend zusammen mit einem ebenso frohen Frank Beermann im Restaurant Scala des Hotels an der Oper. „Sehr, sehr zufrieden“ sei er mit der Aufführung gewesen, bekannte Eötvös, „gute Sänger, eine großartige Robert-Schumann-Philharmonie und (lächelnd, mit einer beidhändigen Geste zum Nebenmann) ein wunderbarer Dirigent“. Beermann wurde fast rot wegen des Kompliments. Musste er nicht. Er hat es verdient. Mehr als das. Bis ins Detail durchgestaltete Musik so zu gestalten und alle Fäden in der Hand zu halten, dass zwischen Bühne und Graben alles stimmt, so verückt es musikalisch oder inhaltlich zugeht: Große Leistung von Beermann und den Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie.
(Einschub: Wie gewohnt, widmete Beermann „seine“ Rose beim Beifall einer Musikerin. Die Rose wurde im Graben aufgefangen, wanderte aber nicht irgendwohin nachhause. Sie lag- beim langen Beifall – dekorativ auf der geöffneten Partitur: Hohe Achtungsbezeugung der Musiker vor dem Komponisten und dem Dirigenten!)
Zeitgenössische Musik ist nicht etwas für alle Ohren. Aber nur ganz Vereinzelte verließen vorzeitig den Saal. Gewiss, Eötvös macht keine gefällige Musik, nichts zum Hineinlegen. Aber spannend ist sie allemal – changierend zwischen (ja!) illustrativem Krach (Eötvös liebt gute Filmmusik) und einem Beethoven-Zitat (Neunte, „Alle Menschen werden Brüder“… was gerade hier, in „Paradise reloaded“ ein frommer Wunsch bleibt), zwischen rutschfingererzeugtem ätherischem Streicherklang und harten Rumskontrasten der Schlagzeuger, zwischen einsamen Klavier-, Klarinetten und Piccoloflöten-Tönen und orgelndem Knopfakkordeon. Die Schlagzeuger hauen den Rhythmus auch schon mal auf Banjos rein oder rattern die Becken, ehe sie die Glocken schlagen. Das Orchester spielt blind – im Anfang, wenn die Erde wüst und leer ist (tohu wa bohu, wie es in der Bibel heißt) und Luzifer (der – wörtlich übersetzt -„Lichtbringer“) himmelverstoßen zur Landung auf dem Planeten ansetzt. Da geht das Licht dann natürlich auch an…
Helen Malkowsky, die Regisseurin, und ihr Bühnenbildner Hermann Feuchter spielen genauso wie der Komponist die bizarre Geschichte von Lilith, dem Teufel und Adam und Eva nach, die Albert Ostermaier eklektisch aus alten ungarischen Texten aufgeschrieben hat. Da geht schon mal der Vorhang fast zu und das Licht im Zuschauerraum flackert auf, der Apfelbaum der Versuchung steht gleich ganz in Flammen. Die Bühne dreht sich, wird Kampfplatz ob im Schlafzimmer oder vor der zerbombten Stadt. Helen Malkowsky hat bestimmte Lieblingsideen, die offenbar nie fehlen dürfen. Wie in der „Toten Stadt“ lässt sie ein Filmchen einspielen, wie dort (wo sich die Prozession hinter den Kulissen abspielte) singen hier die gefallenen Engel und die Orakelfrauen gelegentlich aus dem Off. Aber hier stimmt das alles – ständig ist was los, oben auf der Bühne wie musikalisch unten im Graben.
Aktuelle Anspielungen fehlen nicht, ob sie sein müssen oder nicht. Von Migranten ist die Rede, die gefallenen Engel kommen erstmal als Pastor, Prälat und Rabbi auf die Bühne. Warum war einer der beiden Christen nicht ein Imam? Klar haben die Leute geschmunzelt, als von den Fledermäusen die Rede war. Schließlich stammt Eötvös aus Székelyudvarhely (deutsch: Oderhellen), der transsylvanischen (ehemals ungarischen, heute rumänischen) Heimat eines gewissen Herrn Dracula. Tausende von Kleinigkeiten lassen immer wieder was Neues sehen und entdecken. Das Regieteam hat gute Arbeit geleistet.
Toll die Fließbandgezeugten Kinderengelchen wie Orgelpfeifen mit ihren Automatikgeigen, die spielen, bis die Batterien ausgehen und Luzifer kein Licht mehr bringt. Süß, die kleinen Suzukis, die auch als musizierende Elfpunkt-Wendt-und-Kühn-Puttchen hätten auftreten können. (Kostüme: Henrike Bromber).
Dass die Regie so freie Hand hat, ist auch der Beweglichkeit der Figuren und deren Bewegungsfähigkeit im Raum zu danken (wie sagte kürzlich Intendant Christoph Dittrich?: „Theater war schon immer 3D“…). Da hilft es ungemein, wenn – behutsam – die Stimmen mikoport-verstärkt rüberkommen, und die Sänger nicht an die Rampe müssen, um den Graben zu überbrüllen, oder dass man sie überhaupt versteht. Das war hier nun überhaupt kein Problem. Jedes Wort war zu hören, trotz bisweilen irrwitziger Tonsprünge und Halbsprechgesängen. Und außerdem halfen die Übertitel – eine großartige Idee, wie man selbst eine „deutsche Oper“ dem Publikum noch näher bringen kann.
Eötvös zu singen, ist wahrlich kein Kinderspiel. Frances Pappas muss sich als Lilith bisweilen in fortelaute Höhen versteigen, ohne dass sie kreischen darf. Und dann singt sie wieder die leise Liebe heischende Schwangere. Perfekt. Expressiv und impressionistisch. Marie-Pierre Roy muss, aber darf nicht immer die „liebe“ Eva sein. Gewiss, ihr sind die eher leiseren Töne in die Stimmbänder geschrieben worden. Die durststammelnden, giftwasserverseuchten. Ungewöhnliche Tonfolgen hat sie drauf, als sänge sie eine stinknormale Dur-Tonleiter. Und dann stehen die beiden, hintereinander, schwanger vom Selben, hoffend und leidend – und werden eins. Und die eine die andere. Und Adam steht da, und weiß nicht, wie’s weiter geht.
Dieser Adam (Mark Van Arsdale), der Urvater des Menschengeschlechts, muss hier zwangsläufig ein gestoßener, geworfener, hin- und hergerissener Barockmensch sein, der nicht weiß, auf welche Seite er sich schlagen soll, der den Fortpflanzungsbefehl in der Hose hat, der aber von Liebe nichts versteht, nicht verstehen kann, weil kein Mensch/Mann sich eine Geliebte vorstellen kann, die nicht gleichzeitig Eva und Lilith wäre. Der Adam ist eine schwierige Partie – spielerisch wie sängerisch. Arsdale hat das großartig gemacht.
Lucifer (Holger Falk) hat es einfacher (stimmlich nicht leichter!). Er ist kantig, Der gefallene Engel ein Bild von einem Menschenmann, der weiß, was er will. Und grandios scheitert, weil er es nicht schafft. Schöne Stimme, verführerisch und herrisch eingesetzt, überlegt und wütend – Falk vervollständigt auf gleicher Höhe ein Solistenquartett der Extraklasse.
Aber nicht nur die Gäste waren in großer Form. Die drei Damen (ja, die Anklänge an die „Zauberflöte“ sind unverkennbar) singen die auch für ungeübtere Ohren wohlklingenden Terzette, die Eötvös raffiniert eingebaut hat. Großartig Guibee Yang und Cordelia Katharina Weil, zu denen sich als Gast nahtlos Maria Hilmes gesellt hatte. Die drei Engel A, B, C , ob in Kutte oder Kämpferklamotten, spielten den männlichen Widerpart (die Oper ist bei aller vorgeblichen Dissonanzwirtschaft im Graben insgesamt sehr symmetrisch aufgebaut). André Riemer, Andreas Kindschuh und Kouta Räsänen, „unsere“ Chemnitzer, begeisterten schlichtweg.
Eötvös hat einmal gesagt, Oper und Film seien immer dafür da, die Leute zu unterhalten. „Selten allerdings ist der Augenblick, in dem wir darüber hinaus in der Lage sind, uns Gedanken über unsere Beziehung zu dieser Welt zu machen. Wenige, aber bedeutende Kunstwerke vermögen es, uns als Wegweiser zu dienen.“ Als Beispiel nannte er – ausgerechnet – Béla Tars Film „Das Pferd von Torino“ (darin wird die Schöpfung von hinten aufgezäumt. Am letzten Tag „wurde es Dunkelheit“). Bei Eötvös wird im Paradies alles noch einmal auf Null gestellt und neu geladen. Der Film bringe „auf ungewohnte und überraschende Weise doch Licht in unseren Verstand“, sagte Eötvös. Seine Oper auch. Sie wird – nach dieser Chemnitzer Premiere – ihren Weg in den Opernhäusern machen.
Hier finden Sie den Vorbericht des Theaters und die weiteren Aufführungs-Termine in Chemnitz