Die Leiden der Charlotte

Nach Claude Debussy habe Massenet unermüdlich danach gestrebt, „in der Musik Dokumente zur Geschichte der weiblichen Seele zu suchen“. Pilavachi sieht das genauso. Bei seiner Inszenierung geht es nicht so sehr um die „Leiden des jungen Werthers“ (à la Goethe) als um die an Liebe leidenden Frauen. Nicht nur um Charlotte, auch um Sophie, die jüngere Schwester (die bei Goethe gar nicht vorkommt), die sich in Werther verliebt hat. Am Ende sitzt sie traurig in ihrem bürgerlich warmen Käfig, stumm frierend zusammen mit ihrem Schwager Albert, den auch keine Liebe mehr wärmen wird. Käthchen, die hibbelige Braut (herrlich: Michaela Görg), mit beiden kurzberockten Hochzeitskleid-Beinen auf dem Boden, kein Seelendrama-Kind wie Lotte und Sophie, knallt ihrem Bräutigam gleich über der unangeschnittenen Hochzeitstorte eine, schmeißt die Tür zu, haut ab, und sagt der Liebe Adieu. Lieber ein Ende mit Schrecken.

Im Libretto wird an dieser Stelle eigentlich die goldene Hochzeit des Pfarrers gefeiert. Pilavachi ändert das. Das naive Käthchen wird zum Gegenentwurf der sentimentalen Charlotte. Die unfähig ist, zu handeln. Die ein schwarzes Trauerkleid trägt, statt um ihre Liebe zu kämpfen oder die andere zu akzeptieren. Wenn sie denn schon dem Wunsch der Mutter folgte, dann hätte sie Albert ja auch ehrlich lieben können, zumindest es versuchen. Aber das ist gar nicht so einfach.

Auch den Charakter von Albert hat Pilavachi grundlegend geändert. In dieser Inszenierung ist er nicht der Brave, Anständige, Nett-Dumme (wie im Libretto). Der Regisseur macht ihn zu einem Kämpfer um sein Recht an der Frau.  Er wird zum Jäger, die Knarre schussbereit. Immer eine Bedrohung. Er gibt die Pistole nicht einfach nur naiv her, weil ihn Werther schriftlich darum gebeten hat, bei Pilavachi weiß er genau, was Werther damit vorhat. Und so überbringt nicht ein Bote die Waffe, sondern Albert zwingt Charlotte dazu, sie selbst weiterzugeben – wohl wissend, dass sie dadurch zu Beihelferin zum Selbstmord werden wird. Und sie weiß, dass sie mit der Übergabe der Waffe zur mittelbaren Mörderin am Geliebten wird. Starke Szene, schlüssig im Konzept.

Pilavachi weiß, was er tut. Und er macht’s handwerklich äußerst geschickt. Ein ahnungsloser Albert, der – wie man hört (im Libretto) – wieder da sein soll, wäre keine echte Bedrohung. Hier taucht er schon vorher auf, schaut durch die Türöffnung, kriegt mit, welche Gefahr droht, dass sich seine Verlobte tief in einen anderen verliebt, und kriegt Wut. Da liegt dann auch plötzlich die Waffe offen rum auf dem „Hammerklavier“, das eher aussieht wie ein Virginal. Von da an wird’s übel werden.

Oder, wie Pilavachi Personen entwickelt. Charlotte holt die Kiste mit den Briefen Werthers hervor. Sie sehnt sich, aber sie hat nichts Böses gemacht. Und sie will der Welt zeigen, wie lieb doch der Geliebte geschrieben hat. Schreck. Das ist ja der Ehemann. Sie zuckt zurück. Zu spät. Er weiß, was die Stunde geschlagen hat.  

Tausend andere Beispiele. Großartig, wie der Amtmann die Kinder schützend hinter sich birgt, als er spürt, wie übel der Schwiegersohn drauf ist. Wie er, voll des süßen Weins, an der Hochzeitstafel neben seinen besoffenen Freunden einschläft. Aber es sind nicht nur die vielen „Kleinigkeiten“. Mancher Gedanke erschließt sich erst im Ablauf. Warum zitieren Brühlmann und Käthchen zu Beginn den Klopp-stock? Weil er für sie eher Klopp und Stock ist. Nicht die Übereinstimmung der Herzen signalisiert wie bei Werther und Charlotte, als sie sich gerade finden. Warum senkt sich die Hausmauer nur im Anfang? Nur, solange Werther der Fremde ist. Hat er Charlotte erstmal „erkannt“, gehört er dazu, und wir mit ihm. Wir ahnen, was sich bei Amtmanns abspielt und sehen es durch Werthers seelisches Auge.

Der Schluss, das Drama nur noch im Inneren: das bürgerliche Leben verschwindet in den Hintergrund, vorne schneit’s Millionen Liebesbriefe (Goethe hat Werther als Briefroman geschrieben…), Himmel und Hölle öffnen sich gleichzeitig: Werther stirbt den (langen, langen Opern-) Liebestod, der ihn dem Himmel näherbringt, Charlotte geht auf den Höllenweg. Sie hat die Liebe getötet. Aber die Liebe stirbt nicht. Charlotte wird einsam immer und immer wieder hinauspilgern an die Stelle am Feldweg… Uns fröstelt. „Kein Weihnachtsmärchen“, schreibt ein Besucher später ins Netz. Und eine Besucherin: „Gänsehaut“…

Wie auf einen Guckkasten sehen wir durch Werthers Augen auf das Geschehen. Markus Meyer hat das Amtmann-Heim wie eine Kassberg-Villa gebaut. Die dunkle Straße, der kalte Flur, die hohe Wohnstube, in der ein Werther nicht sein darf, in der er aber die Natur spürt – nicht den kalten Weihnachtsbaum. Die echte, draußen vor den Fenstern. Groß die Ossian-Natur-Arie…

Zu diesem Konzept passen der reife Werther und der gar nicht tumbe (Bild von einem Mann, den Charlotte wirklich lieben könnte) Albert. Timothy Richards ist Werther. „Timothy Richards als Pollione war eine ausgesprochen positive Überraschung“, schrieben wir nach seinem ersten Auftritt in Chemnitz in „Norma“ (März 2014). Richards beherrscht nicht nur Bellini-Belcanto, sondern auch Massenets französische Umbruch-Romantik. Traumhaft das Duett mit Charlotte unter dem Weihnachtsbaum.

Nur Richards ist Gast in dieser Aufführung. Alle anderen Solisten sind am Haus. Auch Cordelia Katharina Weil, die Charlotte. Himmel, ist sie gut in dieser teuflischen Rolle. Jede Sekunde spiegelt ihre Stimme, was in Charlotte vorgeht. Wir spüren ihre Sehnsucht, ihren Schmerz, ihre wenigen glücklichen Augenblicke. Kein schwärmerisches Sturm- und Drang-Mädchen, auch sie eine reife Frau. Mit warmer, voller Stimme, bis hin zum flüsternden Ersterben.

Die muntere Sophie an der Schwelle zum Erwachsenwerden singt und spielt Guibee Yang (sie wird bei den künftigen Aufführungen alternieren mit Franziska Krötenheerdt). So kennen wir sie: glockenhell ihr Sopran, verspielt jede musikalische Wendung wie ihre Mimik und Gestik.

Traumrolle für Andreas Beinhauer. Der junge, neue Bariton im Ensemble ist ein Albert, wie man ihn sich nicht besser in dieser Inszenierung wünschen kann. Winter, Kindschuh, Randall, Mäthger – herrliche Charakterstudien aus der bürgerlichen Welt, die (lass‘ sie auch mal übertreiben) dafür sorgen, dass die Welt auch ohne Liebestod angenehm sein kann. Die Zeiten, da sich die Menschen wegen Goethes „Werther“ reihenweise umbrachten und der Leipziger Stadtrat (1775) das Buch verbot („Es wird hier ein Buch verkauft, welches den Titel führt Leiden des jungen Werthers. Diese Schrift ist eine Empfehlung des Selbst Mordes“), sind längst vorbei. Mindestens seit 1825. Da wurde das Buch wieder erlaubt. Die Menschen machten sich andere Sorgen…

Nicht zu vergessen die sechs Geschwister von Charlotte und Sophie aus dem Chemnitzer Kinderchor – herzig, lieb und aufgedreht, und einstudiert (Tom Bitterlich hatte den Grundstein gelegt) vom neuen Leiter des Kinderchors Pietro Numico, der grad mal ein paar Wochen da und auch stellvertretender Chorleiter ist.

Dieser Massenet wurde in Chemnitz vorher nie aufgeführt. Auch seine anderen Opern sind nur wenigen bekannt. Geliebt ist ein einziges Stück: die „Meditation“ aus der Oper „Thaïs“. Kein großer oder kleiner Geiger, der diesen Ohrwurm nicht gespielt hätte (oder hätte spielen wollen). Aber gerade in „Werther“ zeigt sich die Fähigkeit Massenets, Stimmungen und Atmosphäre in Klang umzusetzen – in Soli (Geige/Schill, Cello/Bruder und Bläsern), in die Fröhlichkeit vom hohen Holz, in die grummelnde Wintersturmkälte der Celli.

Die Robert-Schumann-Philharmonie zeigte sich wieder einmal von ihrer besten Seite: mit einer tollen Präsenz, mit berauschendem Streicherklang, mit lupenreinen Hörnern, dräuenden Pauken, einfühlsamer Harfe, dezent begleitend, wo verlangt, auftrumpfend, Situation schaffend, wo möglich. Flott, aber nicht hetzend. Und ruhig, bis zum Ersterben schön. Durchsichtig. Immer. Als ob die Musiker jeden Moment zeigen wollten, was für ein großartiger Instrumentierer dieser Massenet für seine musikalischen Einfälle war.

Am Pult stand Felix Bender. Solch einen Sachwalter seiner Musik hätte sich Massenet gewünscht. Der junge Kapellmeister baut Spannung auf, hält sie. Hat jeden noch so kleinen Einsatz drauf, schafft Übergänge, dass man meint, das Orchester atmet in einem Zug. Und das alles locker, als hätte er den „Werther“ schon tausendmal dirigiert. Als ergäbe sich das alles mühelos.

Von wegen. Bender nahm den prasselnden Beifall für das Orchester und sich entgegen. Dankbar. Überstand die Premierenfeier. Ging nach Hause. Nicht, um zum Abspannen ein Glas Rotwein zu trinken. Sondern um zu arbeiten. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel… Um 4.14 Uhr (!) postete er auf Facebook „Einrichtung “Der gerettete Alberich” geschafft…“. Und setzte ein Smiley dahinter „J“. Das Tagwerk war vollbracht.

„Der gerettete Alberich“ ist ein Schlagwerk-Bravourstück des Amerikaners Christopher Rouse. Es wird wahrscheinlich der Knaller im 6. Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie, am Mittwoch und Donnerstag (10.und 11.2.) in der Chemnitzer Stadthalle. Das „Gipfeltreffen spektakulärer Klangfarben und rhythmischer Virtuosität“ (Theater-Ankündigung) unter dem Motto „Tempo, Technik und Triumph“ moderiert Generalintendant Christoph Dittrich selbst. Und am Pult steht? Tausendsassa Felix Bender! Toi, toi, toi!