Der junge Wilde und die Leidenschaft eines Erfahrenen

Angekündigt für das 5. Sinfoniekonzert war, dass der Pianist Christian Zacharias Mozarts c-moll-Klavierkonzert spielen und, wie dereinst der Komponist selbst, vom Flügel aus leiten sollte. Anschließend wollte er sich an Bruckners 6. Sinfonie wagen, einen schweren Brocken für jeden Dirigenten. „Dass hervorragende Instrumentalsolisten auch hervorragende Dirigenten sind“, schrieb einmal die Basler Zeitung, „ist eher selten. Der Deutsche Christian Zacharias ist ein solches Ausnahmetalent“. Man durfte gespannt sein.

Zacharias leitete die (vorgezogenen) ersten Proben mit dem Orchester (die Philharmonie hatte ja am 5. Und 6. Januar noch die beiden Neujahrskonzerte mit einem ganz anderen Programm zu bewältigen). Dann aber, am Montag, haute ein Infekt den Pianisten und Dirigenten buchstäblich um und ins Bett.

Das war die Stunde von Raimund Kunze, dem Orchesterdirektor der Robert-Schumann-Philharmonie. Risiko hoch 3. Wer würde – fast ohne Proben – sich an diesem Vabanque-Spiel beteiligen? Kunze suchte – und fand: einen jungen Wilden, 22 Jahre alt, aus Paris, und einen erfahrenen Abgeklärten, aus Salzburg: Jean-Paul Gasparian als Pianisten und Leopold Hager als Dirigenten. Am Dienstag waren sie in Chemnitz, der „Junge und der Junggebliebene“, wie Raimund Kunze sie vor dem Konzert vorstellte.

Wer wagt, gewinnt. Gasparian, mit 14 (!) einstimmig in das weltberühmte Konservatorium in Paris aufgenommen und vor zwei Jahren zum Master graduiert, hat inzwischen bewiesen, dass er einer der meistversprechenden jungen Pianisten ist, wie nicht nur die Zeitschrift „Classica“ wertete (warum, zum Teufel, setzt sich dort und in der deutschen Sprache überhaupt immer mehr das falsche „vielversprechendst“ durch…?).

Jean-Paul Gasparian, Spitze mit 22

„Hübscher Bengel“, murmelte die Nachbarin, als Gasparian auf die Bühne trat. Stimmt. Würde wunderbar in alte französische Romy-Schneider- und Belmondo-Filme passen. Aber das hilft für Mozart wenig. Gasparin hat das c-moll-Konzert schon mehrfach gespielt. Es gibt sogar eine Video-Aufzeichnung davon. Und er hat auf der 1000 km-Strecke von Paris nach Chemnitz noch einmal tief in die Noten geschaut – aber auswendig spielen, nö, das kann von ihm niemand unter diesen Umständen verlangen.

Hager, der alte Fuchs, weiß natürlich genau, wie auf Akademien und Musikhochschulen ein wissenschaftlich sauberer Mozart gelehrt wird. Und er schaffte es, dass Orchester und Solist an den Halte- und Höhepunkten blitzsauber zusammen agierten, als sei das tausendmal geprobt. Gasparian wirbelte perfekt über die Tasten und zeigte Sentiment, wo angebracht. Da gab Hager auch immer nach. Aber in den dominanten orchestersinfonischen Stellen (dieses Klavierkonzert hat Mozart mehr als alle anderen sinfonisch orchestriert), da zeigte Hager, wie er seinen Liebling Mozart versteht – dieses verrückte Genie, der immer auch ein Lausbub blieb. Und zwischendurch mal die Klarinetten dudeln lässt, als spielten sie zum Tanz auf beim Heurigen. Der alte Klarinettenkumpel Stadler hätte das sofort verstanden, wie Mozart hier den Wiener Salon aufmischt. Die Akademie hatte Gasparian aber gelehrt, welch „neues“, in die Zukunft deutendes Werk Mozart – mit 30, da war er schon acht Jahre älter als der Solist heute – da komponiert hatte. Und da ist dann für solche Lausbuben-Witze kein Platz. Da funktioniert dann die Idee nicht, die aus dem Flügel antwortend ins Publikum herüberfliegt. Kurzum: im Gefängnis der Noten und der Akademie bleibt bei aller technischen Perfektion für Hinhören aufs Orchester und Mozartische Einfälle nicht so ganz viel Platz.  

Was Gasparian drauf hat, wenn er jung und in Kopf und Fingern wild sein darf, das bewies er in der eingefügten Kadenz im ersten Satz und – mehr noch – in der Zugabe, der 5. aus den Bilder-Etüden (Études tableaux) von Rachmaninow.  Ottorino Respighi, der italienische Kollege Rachmaninows, hatte bei jeder dieser Etüden sofort nicht Noten, sondern ein Bild im Kopf: er sah hörend einen „Jahrmarkt“ oder auch „Rotkäppchen und den Wolf“. Welches Bild Gasparian vor sich hatte, keine Ahnung. Aber er hatte eines, so frei und losgelöst, so locker und kraftvoll er die (Klang-)Farben mischte. Schön, dass wir Gasparian in Chemnitz hatten. Von diesem jungen Mann werden wir noch viel hören.

Kann sein, dass Hager den Ritt nach Chemnitz nicht auf sich genommen hätte, wäre Bruckners Sechste nicht eine seiner Lieblingssinfonien.  Hager kennt seinen Bruckner durch und durch. Und er – der Salzburger aus dem Erzbischofsland – denkt und fühlt jede Sekunde mit dem katholischen Oberösterreicher, der Kirchenorganist war und wunderbare Messen komponiert hat. Für die Majestät und (liturgische) Feierlichkeit auch in „weltlichen“ Werken nie Wagnersche Germanen-Ekstasen zugelassen hätten.

Die Sechste gehört zu den kürzesten Bruckner-Sinfonien (von den neun „anerkannten“, sprich ganz oder fast vollendeten). Schon die Satzbezeichnungen künden von alterserfahrener Entschleunigung: „Majestoso“ der erste, „Adagio. Sehr feierlich“, der zweite. Das Scherzo „Nicht zu schnell“, das Trio „Langsam“. Und selbst das Finale „Bewegt, doch nicht zu schnell“. Das kann für die Hörer einigermaßen zermürbend klingen, wenn ein Celibidache mit den Münchner Philharmonikern weit über eine Stunde braucht. Hager hält’s da eher mit Bernstein – er brauchte 55 Minuten. Aber vor allem: er schaffte es mit der Robert-Schumann-Philharmonie, die Spannung keine Minute abreißen zu lassen.

Das ist gar nicht einfach bei diesem Mammutwerk, in dem die Teile mitunter harsch gegeneinander gestellt sind, als ob der Organist unvermittelt von einem aufs andere Manual wechselt. Keine langen dynamischen Auf- oder Abschwünge, keine komponierten Ritardandi oder Accelerandi. Dafür warmes Holz kontra gleißendes Blech. Und Streicher, aus denen der leidenschaftliche Hager immer noch mehr Melodie und Klang herauszaubern wollte (und – nebenbei – wo wir uns gewünscht hätten, dass vor der Bläsermacht auch ein voller 60 Mann starker Streicherpulk „gekämpft“ hätte). Und dann das Faszinierende: Hager schafft Verbindungen, nimmt kurz die Volltöner zurück, wagt kleine Crescendi, Ritardandi, um trotzdem wie aus dem Nichts die Macht der Brucknerschen Musik (der hätte gesagt: der göttlichen Musik) erstrahlen zu lassen.

Hatte beim Mozart noch die eine oder andere Phrase besser abgestimmt werden müssen (die Flöte markiert einen Bogen, das Fagott antwortet im Stakkato), bei Bruckner passte das alles wunderbar. Die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie gingen auf jeden kleinen Fingerzeig des Maestro ein, die Streicher – selbst krankheitsgewürfelt, Ovidiu Simbotin agierte wahrhaft meisterlich als Konzertmeister –  mit herrlicher Wärme im Klang, die Holzbläser wunderbar harmonisch, das Blech, vor allem Trompeten, Posaune und Tuba lupenrein glänzend – boah, das zu hören, war ein Erlebnis. Das Publikum hielt es nicht auf den Stühlen. Wohl aber das Orchester. Mehrmals. Freiwillig. Um zu zeigen, was der 82jährige da geschafft hatte. Mit der Energie eines „Junggebliebenen“, da hat Raimund Kunze mehr als recht. Eines von Bruckner Besessenen.

„War das nicht herrlich?“, sagte der Intendant beim Rausgehen zu Sabine Bruder, der Flötistin, die das Konzert im Saal angehört hatte. „Ja“, antwortete sie, „leider hat Bruckner nur zwei Flöten besetzt…“ Auch ihre Kollegen von  der Robert-Schumann-Philharmonie werden dieses Konzert nicht so schnell vergessen. Ganze drei Proben. Und dann dieser Erfolg. Sie können sich ruhig mal selbst auf die Schulter klopfen.