Laut vor Verzweiflung schreiend verabschiedet sich die Mutter von der Tochter Gelsomina, die sie eben – wie vorher wohl schon deren ältere Schwester – für zehntausend Lire verkauft hat, im zu Beginn zitierten Ausschnitt aus Fellinis oscargepriesenen Film von 1954. Nino Rotas große Gefühlsmusik setzt ein – Schnitt. Chemnitz, gleiche Szene. Die Mutter (Ulrike Euen), der Zampanò (Dirk Glodde). Allein. Einander gegenüber. Leise klimpern ein paar Töne (Musik: Damian neogenn Lindner). Czechowski macht aus der großen Filmparabel ein leises Kammerspiel. (Schön, dass er wieder in Chemnitz inszeniert. Sein „Caligula“ von 2016 wurde hier damals als „eine der bedeutendsten Inszenierungen der letzten Jahre in Chemnitz“ gefeiert).
Nicht, dass da auf der Bühne nichts los wäre. Wojciech Stefaniak lässt die Drehbühnenwelt im einen, die Menschenwelt auf dem Zampanò-Wagen im anderen Sinn drehen. Meistens kommt’s nicht so, wie Du denkst. Am eigenständigen Lauf der Welt ändern Deinetwegen weder Marx noch der Herrgott was. Fellinis Nachkriegs-Neorealismo im ebenso katholischen wie antifaschistisch kommunistischen Italien kennt keine Gnade. Vor dem leeren Bildstock, aus dem Zampanò (Dirk Glodde) das wertvolle Herrgottsbild geklaut hat, um endlich auch ein bisschen reich zu werden, kann er schließlich nur noch den Vater droben um Entschuldigung bitten. Seine kleine Rettichkopf-Jasmin (Gelsomina ist der italienische Name für Jasmin) wird wie im Anfangsbild ein unerfüllter Sehnsuchtstraum bleiben.
Seraina Leuenberger irrwischt dieses hin- und hergeworfene, geliebte und geprügelte Mädchen Gelsomina – sie springt über alle Barrieren (des Holzbühnenrunds), als hätte sie keine Knochen, sie zergeht in Glückssekunden, wenn sie neue Klamotten sieht, und schluchzt herzergreifend die Anklage gegen den Zampanò, wenn er sie wieder geschlagen hat.
Matto (Dominik Puhl), der himmelspförtnende Moriturus-Seiltänzer von ganz oben, kann sie für Momente dem Straßendreck entheben (da stammen die Dialoge fast eins zu eins aus der deutschen Synchronisation des Fellini-Films – „alles hat einen Wert. Dieses Steinchen. Und auch Du“…), aber dann neigt sie doch eher wieder dem straßenköternden Eisenkettenmann zu, der sie schließlich auch ernährt und ihr das Trompetenspielen beigebracht hat. (Sie muss Nino Rotas Lied, das die Masina, Fellinis Frau, im Film tränenreif der Trompete aus dem Playback nachempfindet, nicht spielen. Kitsch, und sei er noch so rührend, ist Czechowski und seinem Komponisten Lindner fremd).
Was Gelsomina für den einen empfindet oder für den anderen, oder ob sie doch lieber das Angebot der Wirtin (Ulrike Euen, rauchend, grau, wie direkt aus einem Fellini- oder Fassbinder-Streifen, desillusioniert, aber mit großem Herzen) annehmen soll – in der polnischen Kammer-Spiel-Symbolik bedarf es da keines großen Seelendramas. Warum sie sterben wollte (sagt sie zweimal), ist dramatisch nicht herausgezaubert. Das kann sich der „herausgeforderte“ (Programmheft) Zuschauer doch hoffentlich wohl selbst denken…
Wahrscheinlich ist es sogar nicht nur Besetzungsökonomie, dass Katka Kurze (gleichermaßen authentisch) Hure und Nonne spielt: die eine, verkommen auf der Straße, verkauft sich für Geld, die andere, arm wie die Maus in ihrem Kloster, ist dankbar für ein Stückchen Brot. Marx und der Herrgott sind weit weg.
Die vier Studenten des Schaupielstudios (Marko Capor, Rebecca Halm, Daniel Hölzinger, Svenja Koch) tanzen mit ihrem Obersoldaten Philipp von Schön-Angerer sprechende Bilder. Aleksandr Azarkevitch hat ihnen eine bestechende Atmosphäre schaffende Choreografie auf die Gliedmaßen geschneidert – sie sind Soldaten, Volk, unglückkriechende Lemuren. Und Wagenschieber.
Das Regieteam hat viele Anleihen bei Fellini genommen – auch das vom Motorrad getriebene Straßenheim, das auch als Bühne für die Dorfplätze herhalten muss. Dirk Glodde kämpft mit diesem Vehikel, wie er mit sich, der Umwelt, den Frauen an der Straße kämpft. Und mit der Liebe. Sex kennt er. Kraft hat er. Von Liebe versteht er erst was, als es zu spät ist. Da ist von Gelsomina nur noch die Trompete da, die er ihr einst beim „Abschied“ geschenkt hat. Sie selbst (ihr Bild) steht weit weg von ihm, dem ewig nach Nähe sehnsüchtigen Menschenbild, fern oben, ganz wie im Anfang seiner Erinnerung, als unwirklicher Traum. Vielleicht auch nur ein Trick. Ähnlich dem, mit dem er seine Eisenkette sprengt…
Fellini hat neben dem Schmutz der Straße den Traum gewagt, seine Schwarz/weiß-Neorealisten-Kollegen haben darüber den Kopf geschüttelt,Fellini aber den Oscar bekommen. Robert Czechowski hat mit seinem polnischen Team (und zwei Dolmetscherinnen) das katholisch marxistische Polen verinnerlicht. Die westdeutschen Wunderbürger mussten nach Krieg und Not nur acht Jahre warten, bis Conny Froboess die Hymne der Italiensehnsüchtler von den zwei „kleinen Italienern“ sang. Die Ostdeutschen (und die Polen) mussten viel länger ihrer Sehnsucht Platz nur im Herzen geben. Über die Straße des Sozialismus wussten sie Bescheid, und sie ahnten, wohin sie führe. Vielleicht hat die polnische Fellini-Version deswegen in Chemnitz eine besondere Kraft. Der Beifall war sehr wohlwollend warm und herzlich…
Die nächsten Vorstellungen: 30.März., 4., 12. Und 30. April 2019