Wenn vom Sehnen nur die Sucht bleibt

Da kommen vier junge Leute aus verschiedener Herren Länder am Ende der Sommerferien nach Chemnitz. Die Schauspielstudenten kennen sich untereinander kaum oder gar nicht. Sechs Wochen später stehen sie gemeinsam auf der Bühne. Und das Publikum hat den Eindruck, sie spielten schon jahrelang zusammen.  Nichts zu spüren von der harten Arbeit dahinter. Sechs Wochen jeden Tag Proben, bis zu acht Stunden. Nur für die Studio-Inszenierung. Daneben Proben für andere Produktionen. Und im Kreuz die Last anstehender Prüfungen. Das Vorsprechen vor Intendanten. Daumen hoch oder runter für die Karriere…

Und dann so ein Stück wie „Hautnah“. Kathrin Brune, Dramaturgin, Mutter der Studio-Kompanie und gleichzeitig Regisseurin hat es ausgesucht. Letztes Jahr haben die Studenten der vorigen Spielzeit „Illustrate Illyria“, das shakespearesche Liebespingpong gespielt. Macht, „was ihr wollt“, hatte Regisseur Yves Hinrichs gesagt, geht aus euch raus, zeigt was ihr könnt, schlagt das Zeug und hämmert das Klavier, dann kommt ihr schon zusammen. (Kamen sie. Wir haben wunderbare Aufführungen gesehen). „Hautnah“ ist anders, ist „closer“, „näher“, wie das Stück im Original heißt. Da schwimmen die vier gleich im selben Aquarium, das nicht umsonst im Stück eine wichtige Rolle spielt (dezent gekonnt –  Bühne: Pia Wessels). Oder sie schwimmen mit dem Bauch oben. Wie die „tote“ (?) Stripperin Alice (steht hier natürlich, aber hinter einem Gaze-Vorhang entrückt) am Schluss.

Die vier machen alles durch, vom Solo bis zum Quartett. In manchen Szenen kreuzen sich vorher und nachher in Spiel und Worten. Verhangen – gefangen: von der Liebe bleibt nur die Sehnsucht, bleibt nur die Sucht. Nach Sex. Und dann nichts mehr. Sie haben sich, sie meinen sich zu haben, haben schließlich nichts, außer miteinander gef…. Sie wollten Liebe, ausbrechen aus der Konvention, der Arzt und die Stripperin, der Nachrufschreiber und die Fotografin. Kommen auf den Hund (die Fotografin) oder die Karbolmaus (der Arzt). Und schwimmen in der Brühe der gesellschaftlichen Norm und Konvention wie die Fische im Aquarium. Tagaus tagein dieselben Runden.

Hört sich traurig an. Ist es eigentlich auch. Aber da ist so viel Humor drin bei diesem genauen Hinseher  Patrick Marber, so viel Ironie, so viel Sarkasmus, so viel offenbare Können-diese-Augen-lügen-Wahrheit, wie sie die Realität des Menschenlebens dem distanzierten Betrachter jede Sekunde aus der Gesellschaft und deren Zusammengetrenntsein entgegenschlägt.

Die Zuschauer haben das sofort verstanden. Viele Lacher. Fröhliche, aber auch (hoppla, stimmt ja) selbstbetroffene. Kathrin Brune (und Dramaturgenkollege René Schmidt) haben das Stück auf den Punkt gebracht. Radikal gekürzt. Dialoge im SMS-Stil, aber authentisch. Drei Sätze auf einmal sind fast schon Rekord. Knapper und eindringlicher kann man wohl die Chat-Szene zwischen Larry und Dan, der sich als sexfantastische Anna gibt, nicht machen. Wieviel Anna steckt in Dan?

Gute Schauspieler braucht eine Regisseurin, wenn da alles so Spitz auf Knopf geht, und man sich nicht in langen Monologen ausruhen und daran denken kann, wie’s weiter geht. Weil das Weiter schon da ist. „Hautnah“ muss das Ganze kleben. Tat es.

Alice (Alina Müller), Dan (Christian Neuhof), Larry (Felician Hohnloser) und Anna (Bianca Kriel) spielen wie ausgebuffte Boulevard-Profis. Ungerührt rührend (Anna), machomedizinisch Larry, Losersieger Dan, körperwahr mundlügend die Stripperin Alice.

Die vier werden’s zu was bringen. Haben wir schon nach ihrer ersten Tour d’horizon am Montag vergangener Woche gesagt.  Sagen wir jetzt erst recht. Und: wenn nicht alles täuscht, wird diese Studio-Inszenierung ein Renner der Spielzeit.

Gut, dass der Förderverein das Studio nicht aufgegeben hat, als die Leipziger Hochschule vor zwei den Daumen senkte. Jetzt ist das Chemnitzer Studio international. Und nach wie vor herzerfrischend jung und doch professionell. Klasse!

Wie der Wirrwar sich im Stück verentwirrt

Einen größeren Video-Ausschnitt bringt das Theatermagazin SZENE

Die nächsten Termine: 12. und 23. Oktober, 7. und 27. November