Rübe ab zum Happy-End

„Gast“-Dramaturg Jón Philipp von Linden weist im Programmheft darauf hin, dass der Name der Hauptfigur, Sir Percy, etwas zu tun hat mit Parsifal. Die Chemnitzer Oper ist nicht nur weithin bekannt für ihren Parsifal und Richard Wagner überhaupt (ein neuer „Ring“ kommt ab 2017), sondern auch beliebt wegen ihrer Musical-Produktionen – jede einzelne ein Erfolg, seit Sylvia Schramm-Heilfort vor 25 Jahren (!) die Eliza gesungen hat „My fair Lady“ kommt im Sommer wieder – open air. Gestern Abend war in der Grazer Oper Premiere für die „Chemnitzer“ Chess-Produktion. Bitterlich dirigierte. Heute Nacht noch schrieb die „Nachtkritik“: „Schachmatt? Keineswegs! Schulnote eins für die Optik von “Chess”… Es war also eine nachvollziehbare Entscheidung von Intendantin Nora Schmid, diese “Chess”-Inszenierung von “Die Theater Chemnitz” einzukaufen.“

Von Linden ist (zusammen mit seiner Frau Nora) wieder zum Theater Bielefeld zurückgekehrt, von wo er hergekommen war. Private Gründe. Freude über gute Jobs. Träne im Knopfloch. Chemnitz fehlt. In Bielefeld war „Das scharlachrote Siegel“ 2010 aufgeführt worden. Mit von Linden („musikalische Assistenz“*).  Auf den Bielefelder Wurzeln (Regie hier wie dort: Roland Hüve, Bühne und Kostüme: Christof Cremer, auch die beiden Prot(anti)agonisten waren damals schon dabei) entfaltete sich die Chemnitzer Produktion. Krönend. Sächsischer Broadway eben. Heute früh hat der chemnitzer Bielefelder von Linden sein Facebook-Titelbild aktualisiert. Es zeigt ein Foto –  der Chemnitzer Aufführung!

Publikum ist nie berechenbar. Aber wenn eine Suppe mit den richtigen Zutaten angerührt wird, schmeckt sie. Man nehme: eine Geschichte voll Herz, Schmerz, Tränen und Blut. Wie weiland Hedwig Courths-Mahler. 1904 brachte das Chemnitzer Tageblatt ihren Roman „Licht und Schatten“ als Fortsetzungsgeschichte. Es war ihr Durchbruch. Oder wie Baroness Emmuska Orczy (was für ein Name!). Sie brach schon ein Jahr eher durch zum Ruhm, als sie in London eine Kurzgeschichte zum Drama „The Scarlet Pimpernel“ umschrieb. Riesenerfolg im Londoner Westend. Für den Broadway fehlte (neben einer zeitgemäßen Neutexterei – machte Nan Knighton) die passende Musik. Für die Würze sorgte Frank Wildhorn, Musical-Chefkoch („Jekyll & Hyde“, „Civil war“, Pop-Titel, auch für Whitney Houston). Uraufführung 1997. Welterfolg. Schmeckte auch dem Publikum in Chemnitz überaus gut. Mehr als 1.000 Gäste bei der Preview (erstmalig) am Freitag und der Premiere am Samstag. Der Intendant freute sich. Hatte bei der Zusammenstellung des Spielzeit-Menüs wieder mal das richtige Händchen bewiesen…

Englischer Graf rettet in bester Musketier-Manier französische Standeskollegen vor der Revolutions- Guillotine und gewinnt dabei die Liebe einer bezaubernden Französin. Ehe es ihm selbst an die Rübe geht, fingert die Geliebte eine Täusch-Wachs-Rübe. Kopf ab, alles gut. Happy ending. Regisseur Roland Hüve und Christoph Cremer (Bühne und Kostüme) wissen genau, wie man einen solchen Mix aus Kitsch, Klamauk und rollenden Köpfen zum Triumph macht. Sparsame, nur angedeutete Kulissen, damit die aufwändigen Kostüme auch richtig was hermachen können. Den Sängern Ruhe geben, wenn sie schmachten dürfen, Feuer unter selbigem machen, wenn die Musik sie lautstark zum Duell fordert, Bilder schaffen, die wirken: etwa bei der Delacroix-Persiflage (malte das berühmte Bild „Die Freiheit führt das Volk“) durch die englischen Pimpernel-Kumpane, der Schattenrisszug der Verdammten, die Rotlicht-Carmen-Marguerite auf dem Tisch. Ja nun, die Drehbühne hätte es nicht gebraucht. Wir wissen, dass wir eine haben. Aber die Choreographie darauf beim Kostümball, das labyrinthisch mäandernde Suchen von Pimpernel, Chauvelin, Marguerite danach, wer kriegt sie, und wen will sie – Sahne.

Die Widersacher Sir Percy (alias Pimpernel) und Chauvelin kennen sich. Nicht nur seit Bielefeld. Beide mit Toprollen. Veit Schäfermeier ist der spinnerte britische Marionetten-Sir genauso wie der kämpferische Résistance-D‘Artagnan und der verschlagene belgische (warum „belgisch“?) Commedia del’Arte-Zinker Grappin. Tolle Stimme. Alexander Franzen (Chauvelin – ein Chauvi, groß vor sich, und klein vor dem Mädchen) darf – Roland Hüve sei Dank – nicht nur den bösen Mephisto spielen und singen, den (nebenbei: im todschicken schwarzen Mantel) Kopf-ab-Revoluzzer und Robespierre-Knecht, sondern auch einen, dem man abnimmt, dass er auch von Herzen lieben kann. Tut einem richtig leid, dieses Mörderschwein mit der Trikolore um den Bauch, wenn er (halb zog er sie, schließlich sank sie – in die Arme des Anderen) um seine Marguerite buhlt. Marguerite (Stefanie Köhm), die Herzin des Poesiealbums, wird immer more tough – die kann nicht nur singen, die kann auch fechten wie der Teufel (Kompliment am Rande an den Fechtmeister Jean-Loup Fourure, nicht nur für diese Szene). Thomas Klotz zeigte nicht nur in der Rolle des Armand, dass er eben erst zu Recht von der Deutschen Musical Akademie als bester Hauptdarsteller in einem Musical ausgezeichnet wurde. Reizend übrigens, dass er laut seiner Homepage in Chemnitz ein Musical namens „Starlet Pimpernel“ spielt…

Unbedingt erwähnenswert noch (alle anderen mögen es verzeihen): Sylvia Schramm-Heilfort als Marie Grosholtz. Die kann Musical einfach. Ob die himmlischen Ohrwürmer eines Frederick Loewe aus „My fair lady“ oder die – der weiß, wie man’s erfolgreich macht – immer wieder mit gleichem Salz und Pfeffer bestreuten Songs und Rhythmen von Frank Wildhorn. Da bleibt der Sound hängen, die Füße wippen mit – schön heute, aber am nächsten Tag wurmt kein Ohr mehr. Diese Marie Grosholtz aus Straßburg, die von ihrem (nimmt man an…, ihre Mutter war Hausmädchen bei ihm) Vater, einem Arzt, der sich mit Wachsfummeleien auskannte und mit erotischen Wachsfiguren mehr Kohle machte als mit seinen Chirurgen-Kenntnissen, gelernt hatte, wie man’s macht, verdiente sich Sporen mit einer Voltaire-Statue und wurde später die berühmteste Wachskünstlerin der Welt: Madame Tussaud. Kein Problem damals für Baroness Emmuska Orczy, bisschen Werbung in ihr Drama einzuschleusen. Und heute regen sich alle auf, dass im „Tatort“ mal BMW oder Mercedes (Gott, wie furchtbar) für ein bisschen Sponsoring ein paar Fernsehbilder eingekauft haben. (Wird heute wie der Teufel das Weihwasser gefürchtet…)

Der Chor, diesmal wohl mehr beschäftigt, die Choreographien zu lernen, als die sanglichen Musical-Backgrounds, machte beides gut (Einstudierung Pietro Numico, das Singen, Merle Große-Tebbe die Bewegung). Die kleenen Engelchen von der Chemnitzer Ballettschule flatterten herzallerliebst durch das anfängliche Poesiealbum. Und das Orchester? Jakob Brenner (seit dieser Spielzeit in Chemnitz) glühte nicht nur in seinen roten Schuhen, sondern auch bis zu den Fingerspitzen. Die Besetzung klein, aber musicalaffin. Da spielten Leute, die Spaß hatten, obwohl’s kein Mozart oder Mahler war. Auch wenn die Streicher manchmal nur weiches Soundbett abzugeben und die beiden Schlagzeuger – Himmel, da muss ja gleich noch ein Triangel-Schlag rein, zwischen großer Trommel, Becken, Pauken und Lärmwerk Krach zu machen hatten. Die „Elektronischen“ zauberten alles, vom Guillotine-Lärm bis zur Pseudo-Virginal-Gavotte am morbiden britischen Stenzenhof.

Macht Spaß, diese Pimpernel-Show. Ach so: Das von Percy benutze Siegel-Ring-Zeichen ist einer Pflanze nachempfunden. Die Pimpernel (auf deutsch ganz unpoetisch Acker-Gauchheil) ist eine Art Primel (da haben die Lautverschiebungen mit den Liquidae „l“ und „r“ einiges zu verschieben gehabt…), eine Volkspflanze, keine adelige bourbonische Lilie. Eigentlich hätten die französischen Revolutionäre auf diese „Volkspflanze“ anspringen müssen. Aber vielleicht wussten sie ja, dass die Pimpernel ein klein bisschen giftig ist (dass die Revolution später sogar ihre Kinder fraß, war damals noch nicht am Horizont). „The Scarlet Pimpernel“ in Chemnitz ist nicht giftig, nur verführerisch. Eine neue rote Leuchtblume im bunten Strauß der Musical-Erfolge vom sächsischen Broadway.

Nächste Aufführungen: 14., 15., 22., 23. Oktober 2016

* Korrektur 19.45: Jón Philipp von Linden war damals schon als Dramaturg dabei, teilt er, wieder in Bielefeld, mit. Seine Frau hat damals die Wiederaufnahme als Regieassistentin betreut. Danke für die Info. Die gedruckte Quelle irrte…