Nach dem Speed Dating in die Sauna

Am Vorabend hatte Felix Bender (fleißiger Mann, und draußen immer mehr gefragt) noch Gounods „Faust“ in Darmstadt dirigiert, Romantik pur. Jetzt Mozart in Chemnitz. Filigranes Rokoko. Da kommt es auf jede Note an, jeden Melodiebogen, jeden Kontrast. Wie Zeus lässt Bender die Hand blitzen zu den zweiten und den ersten Geigen, um ein Fugenthema herauszuarbeiten, holt eine kleine wichtige Klarinettenpassage hervor, lässt Staccati zu Staccatissimi verkürzen, um desto wohliger die anschließende weiche Melodie die Ohren verwöhnen zu lassen. Er dirigiert selbst die Secco-Rezitative – obwohl er zwei Asse im Graben hat: Jeffrey Goldberg am Cembalo und Jakub Tylman mit dem Cello. Mozart hatte bei der Uraufführung das Orchester selbst vom Cembalo aus geleitet. Könnte Bender auch (haben wir begeistert bei „Rinaldo“ miterlebt). Aber er weiß, dass es höchste Präzision und Abstimmung zwischen oben und unten braucht, dass die Soap oben nicht aus den Händen rutscht. Bender redet nicht von Originalklang. Aber er lässt einen Mozart singen und spielen, wie man ihn heute kaum spannender hören kann. Er nimmt die Tempi flott, aber er überzieht nicht. Die Ohrwürmer („Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen…“ „Du wirst nicht mehr die Herzen erobern, ein Adonis, ein kleiner Narziss“…) walzt er nicht – wie manch anderer kitschig – aus. Dass sie so oft in Wunschkonzerten erklingen, ist im ganzen Handlungsrahmen schnurzpiepegal. Und begeistert bejubelt und wiederholt wurden zu Mozarts Zeiten eh vor allem die Ensembles (etwa der Schluss des zweiten Aktes).

Die Robert-Schumann-Philharmonie folgt Bender auf den kleinsten Wink. Ein Mozart-Orchester par excellence – als ob sie nichts Anderes spielten, und nicht auch Tschaikowski, Verdi, Wagner draufhätten, und demnächst „My fair Lady“. Großes Kompliment. Da dürfte auch Eva-Maria Stange die Thielemann-/Staatskapelle-beschwerten Ohren gespitzt haben. Die Kunst-Ministerin war extra aus Dresden angereist. Sie weiß, dass in Chemnitz ein musikalisches Juwel glänzt, das sie zudem nicht aus ihrem Etat polieren muss.

Franziska Krötenheerdt (Susanna), Sejong Chang (Figaro)

Auch auf die Sänger kann sich Bender verlassen. Sejong Chang (Gast aus Leipzig) ist ein allen – ihm auf den Leib geschriebenen möglichen und unmöglichen – Situationen gewachsener Figaro, dessen Bass schmeicheln und schmusen, aber auch höhnisch klingen kann (siehe die erwähnte und von Mozart selbst später im „Giovanni“ zitierte „Militärarie“ – Figaro freut sich, dass dieser kleine Narziss, der lästige Nebenbuhler, in die Wüste geschickt wird). Sein Gegenpart, der Graf, muss zuerst mit bluttem Oberkörper im Saunatuch singen und die Reverenzen seiner Untertanen halbnackt entgegennehmen. Da kann einem Andreas Beinhauer fast leidtun. Das Auge hört mit. Was er für eine wunderbare, modulationsfähige Stimme hat, geht auf, wenn er im Anzug den Machtmenschen, den (überholten) RechtdererstenNacht-Grafen, und am Ende den zerknirschten, um Vergebung bettelnden Ehemann singt. Da hat ihm seine Gattin, die Gräfin, längst verziehen. Maraike Schröter hat sich mit ihrer herrlich flexiblen Stimme, die Mozart hier auch in hohe Lagen lockt, längst einen Stammplatz in den Ohren und Herzen des Publikums erobert. Vanessa Fasoli (als Gast) erinnert an die junge Christine Schäfer, die mit ihrem Cherubino in Salzburg vor ein paar Jahren sogar die Netrebko ausstach. Vanessa Fasoli singt und spielt den pubertären Irrwisch herzerfrischend, auch wenn der Fenstersprung nur ein kleiner Hüpfer sein darf, wenn sie die pseudoerotische Ent- und Verkleidungsszene ertragen muss, dafür bringt sie dann angetütert herrlich komisch die ganze Intriganteneierei fast zum Platzen. Tolle junge, schnörkellos reine Stimme, passt gut. Und die Susanna? Franziska Krötenheerdt war für mich der Star des Abends. Wie gut sie singen kann, das haben wir hier mehrfach geschrieben. Aber dass sie auch schauspielerisch groß ist, das zeigte sie an diesem Abend wieder in Perfektion. So als ob sie als einzige (vielleicht neben der Fasoli) tun und lassen dürfte, was die Regie wollte oder nicht. Und das war gar nicht leicht. Für sie nicht. Erst recht nicht für die Kollegen.

Helen Malkowsky hatte zwar klare Vorstellungen, wann wieder die Sänger an die Rampe zu treten hatten, aber wie spielt Figaro etwa Umarmung, wenn er zehn Meter von den neuentdeckten Eltern weg steht? Bisweilen schon erstaunlich, wie die Profis Tiina Penttinen (großartige Intrigantin und dann liebevolle Mutter Marcellina mit Stil und Aura) und Magnus Piontek (Intriganten-Hiwi und jugendsündlicher Vater Bartolo) trotzdem „Leben zeigten“, auch wenn Magnus Piontek sich vorkam wie Hape Kerkelings Horst Schlämmer und auch noch Spaß daran hatte, wie er noch in der Nacht auf Facebook bekundete.

Mozart ist kein Speed-dating-Komponist. Da geht’s zwar rund, da wird getrickst und intrigiert, aber da geht es auch um tiefe, wahre Liebe, um Sehnsucht und Enttäuschung, um Rache und Vergebung, um Macht und Menschsein – überall und immer, auch im aufkommenden Grollen gegen das ancien régime und dessen Operetten-Variante in Wien (auch wenn wegen der Zensur das Stück im fernen Spanien spielen musste…). All das taucht in den Noten auf. Wenn man es hört. Nicht umsonst will Manfred Haedler im Programmheft für Mozart keine „ohrenlose Regisseure“…

Für Bühne und Kostüme sorgten Saskia Wunsch und Marlis Knoblauch. Ob das Fenster zum Garten erst wie ein sächlicher deus ex machina auftauchen und dann auch offen bleiben muss (wie blöd muss eigentlich der Graf sein?), ob die Drehbühne die Protagonisten wirklich durchschüttelt, wie sie vorgeben müssen, ob man Räume verlassen kann durch Türen, wo keine sind, ob die Bilder, die teilweise an Edward Hopper (erinnern Sie sich noch an das Ballett?) oder an Broadway-Musicals erinnern, ob die Blumenmädchen wie angegelbte Cheerleader-Engelchen daherkommen müssen, ob ein Mozart-Marsch sich wirklich zum Rock ‘n rollen eignet – Geschmacksache. Stört nicht wirklich.

Musikalisch ist dieser „Figaro“ ein Gewinn. Die paar anfänglichen Wackler zwischen Bühne und Graben verschwinden. Was im Repertoire ziehen und (hoffentlich) viele Zuhörern genauso begeistern wird wie das Premieren-Publikum, sind die Sängerinnen und Sänger, das Orchester und der (nun auch) Mozart-Spezialist Felix Bender.

Beaumarchais war Revoluzzer. Er hat den „Tollen Tag“ in Kehl drucken lassen, jenseits der französischen Grenze, als ihm die Zensoren Louis‘ XVI. in seine Suppe spucken wollten. Mozart und Da Ponte haben in Wien die Intriganten um Salieri und die kaiserlichen Zensoren ausgetrickst. Ein bisschen Klamauk hätte sie nicht gestört. Sie hätten am Samstag freudig mitgeklatscht.