„Tango und Impro“ (wie Improvisation) hatten sich Jeffrey Goldberg (Klavier), Ovidiu Simbotin (Geige) und Jakub Tylman (Cello) vorgenommen, „mal sehen was auf uns zukommt“ hatten sie auf Facebook gepostet. Sie überraschten sich und das Publikum mit einem argentinisch heißen Abend der Sonderklasse auf dem kalt verregneten Kassberg.
Wenn sie nicht „freestyle“ improvisierten, lagen Noten von Astor Piazzolla auf den Pulten. Als der Argentinier erstmals in Europa war und einer berühmten Musikerin vorspielen sollte, schämte er sich, weil er „nur“ Tangomusiker war. „Tangomusiker war ein schmutziges Wort im Argentinien meiner Jugend. Es war die Unterwelt“, zitiert ihn eine Biografie.
Sein Tango nuevo und die Milongas sind in der Tat keine Musik für’s deutschaufgeräumte Spitzendeckchen-Wohnzimmer. Sie sind Leidenschaft, Sex, Sehnsucht, Trauer, Schmutz und Schweiß auf einmal – und sie lassen keinen unberührt, der ein Herz hat. Sie kommen aus einer Stadt die bei allem Dreck und bei aller Armut eine Lebensfreude ausstrahlt, wie kaum eine andere auf der Welt: Buenos Aires. „Porteño“ („aus der Hafenstadt“ – gemeint ist Buenos Aires) fügte denn auch Piazzolla den Titeln seiner „Vier Jahreszeiten“ zu. Den „Herbst“ und den „Winter“ aus Buenos Aires hatten sich die drei aus der Philharmonie vorgenommen, der Rumäne, der Tscheche und der Amerikaner, die längst Chemnitzer geworden sind, und die spielten, als hätten sie den Tango schon mit der Muttermilch aufgesogen.
Simbotin kratzte schon mal den Rhythmus hinter dem Steg, dass sich verschiedene Köpfe reckten, wo denn diese bizarren Geräusche herkämen. Die Streicher hämmerten den Bogen auf die Saiten und zupften, dass die Saiten auf dem Griffbrett aufschlugen und zu zerreißen drohten, und Jeffrey Goldberg klapperte auch schon mal aufs banale Holz des Flügels, nicht auf das Elfenbein der Tasten.
Auch wenn Jakub Tylman virenverseucht niemandem die Hand gab, seinem Cello konnten die Krankmacherminis nichts anhaben. Auch Simbotin und Goldberg ließen neben allem Rhythmus-Spaß keine Schwierigkeit aus – hohe technische Kunst auf frechen Impro-Noten. Mal ganz oben, mal markerschütternd unten, dann wieder in bisweilen haarscharfen Parallelläufen – große Klasse.
Natürlich spielten sie die ganz heißen Piazzollas: den „Libertango“, „Oblivion“ und – was für ein überwältigender Schluss! – „la muerte del Angel“. Dieser Piazzola-Engel stirbt nicht leise, da gerät eine Welt aus den Fugen. Das Publikum raste vor Begeisterung. Die Folge ist bekannt: erste Zugabe in der Reihe der „Spielzeiten“…
Lebensfreude pur auf dem tristverregneten Kassberg. Aber die Sonne kommt wieder (auch wenn’s heute erst mal schneit): Ute Kiehn kündigte das nächste „Spielzeit“-Konzert bereits für den 18. Mai an: Dann spielt das Mejo-Quartett Haydns „Sonnaufgang“-Quartett. Und zusammen mit Claudia Schöne das Englischhorn-Quartett des Franzosen Jean Français.