Giselle: Tanz in die (der) Moderne

Die Fachwelt weiß: Das Chemnitzer Ballett ist auf der Höhe der Zeit – klare Bestätigung bei der großartig besetzten Gala kürzlich im Staatstheater Kassel. Bei der 2. Chemnitzer Benefiz-Gala am 9. Mai im Opernhaus (wiederum erstklassig besetzt) können sich auch die Chemnitzer ein Bild davon machen. Erst recht beim internationalen Festival TANZ|Moderne|TANZ vom 17. bis 21. Juni. Da wird sich das Chemnitzer Ensemble messen mit Tendenzen des internationalen Tanztheaters von Shanxi/Tayuan bis Tampere, von Mulhouse bis Ljubljana und Łódź.

Zug um Zug hat das kämpferische Leitungs-Duo Reiner Feistel (Chefchoreograf) und Sabrina Sadowska (Ballettbetriebsdirektorin) auch die Herzen der Chemnitzer erobert. Mit ungewöhnlichen Stoffen („Geschichten aus dem Hut“ nach Udo Lindenberg) und an ungewöhnlichen Orten (Stadtbad, Lutherkirche). Das kam glänzend an. Jetzt also „Giselle“, Schluchzromantik pur, auf den ersten Blick so gar nicht jetzig.

Die ursprüngliche Geschichte: Giselle, unschuldiges Landmädchen, verliebt sich in den Städter (manchmal ist er auch Herzog. Egal, Hauptsache „was Besseres“). Der spielt mit ihr. Sie stirbt an enttäuschter Liebe (bei manchen Aufführungen auch am Schwert. Wieder egal. Hauptsache, dem bösen Liebesspieler gehen die Augen auf). Giselle wird eine Wili – vor der Hochzeit gestorbene Mädchen, die des Nachts als Tanzfeen auferstehen und Männer tottanzen. Albrecht, den Treulosen, natürlich nicht. Giselle liebt ihn. Und er erkennt, was für ein Dummkopf er war. Doch er kann Giselle nicht mehr festhalten. Der letzte Walzer löst sie in Nebel auf. Betröppelt bricht er an ihrem Grab zusammen oder schleicht sich von der Bühne wie ein geprügelter Hund (wieder egal. Hauptsache, die Liebe siegt. Auch über den Tod hinaus. Und die Moral stimmt wieder).

Dazu die gefühlvolle, vibratoselige (hallo: Gesellschaft!) und hörnergrundierte (hallo: Natur!) und harfensphärische (hallo: es gibt noch etwas hoch über uns!) Musik von Adolphe Adam – jeder kann sich vorstellen, was Bolschoi & Co. daraus gemacht haben. Taugt das alles aber heute noch?

Zwei große runde Körper am Bühnenhimmel (Bühne und Kostüme: Klaus Hellenstein) sagen es uns gleich: die Discokugel (Akt 1) und der warme Vollmond (Akt 2). Giselle in der Disco? Echte Liebe, wahre Treue – gibt es sie dort, wo so viel von Liebe und Beziehung geredet, gerappt und gesungen wird? Wo heißer Schweiß (oder scharfe Drogen und Alc) heiße Liebe vortäuschen? Ziemlich kalt, die Disco von Giselle, so sehr die Freundinnen auch zum Walzer sich bewegen, als käme Xavier Naidoo vom Teller. Das hört sich an wie, ist aber „nicht von dieser Welt“. Albrecht liebt sie nicht wirklich, die kleine Giselle vom Land. Disco ist Scheinwelt, Gefühle verlogen.

Es gibt Momente, da schert sich Reiner Feistel (der sonst so unheimlich präzise mit den Klängen agieren lassen kann) einen Dreck um die Musik, hier die von Adolphe Adam aus dem Graben. Irgendwie logisch, dass er (wie so oft) über Schlussakkorde hinaus tanzen lässt, wenn etwas nicht passt, oder Gefühle weiter gänsehäuten. Disco-Optik und –Bewegung zu Adolphe-Adam-Musik: genialer Einfall, wie Beziehungsunfähigkeit unsere Zeit beherrscht. Wie Menschen einsam werden, wenn sie Liebe (nur) spielen.

2. Akt, der Mond. Sonst kalt, Nacht. Hier im Wili-Feenreich warm, Sinnbild für wahres Leben, echte Gefühle. Traum von Beieinandersein – aber alles in gespenstischer Unwirklichkeit. Giselle und Albrecht finden sich, um sich verlieren zu müssen. Sie rettet ihm das Leben, das für ihn ohne sie wertlos ist. Das Leben, ein Traum? Wie bei Calderon? Ist das Leben schöner als Traum? Die Wirklichkeit grausam?

Bei Feistel stirbt Giselle nicht am Ende des ersten Aktes. Ihr Anblick auf dem Bett in der Intensivstation lässt Albrecht träumen, wie es wäre, hätte gewesen sein können. Traum ohne Hoffnung. Am Ende Verzweiflung. Der Herz-Monitor zeigt keine Ausschläge mehr. Feistels „Giselle“ ist die Tragödie des Albrecht – auch unsere, weil wir zu wahrer Liebe unfähig sind?

Leonardo Fonseca tanzte bei der Premiere den Albrecht. Gespenstisch fast, wie er zu Beginn des zweiten Aktes Schuld und schlechtes Gewissen ist, nicht nur spielt. Wie er vor Glück springt, vor Sehnsucht schmiegt, aus Liebe fast irre wird. Er, der bühnenbeherrschende Großkotz aus der falschen Disco-Clique. Natalia Krekou ist tänzerisch und schauspielernd eine wahre Offenbarung. Ihre Giselle tanzt alle Höhen und Tiefen durch. Bis in die Fingerspitzen buchstäblich verzweifelt, als ob sie die verlogene Liebe körperlich spürte. Barthilde (Helene Gläser) und Myrtha (Alanna Saskia Pfeiffer) hat Feistel spiegelbildlich angelegt. Kupplerin und Trennschere: an ihnen entscheidet sich der Fortgang. Schlüsselstellen. Das verlangt Stärke, Kraft und Ausdruck. Beide haben uns beeindruckt. Wie auch Florian Seipelt, der Bauernjunge Hilarion, hoffungsvoll kämpfender, hoffnungslos verlorener Verlobter.

Das Ensemble (bei den Herren hat wohl ein bisschen die Grippe gewütet und die Zahl reduziert) zelebriert Feistel geradezu in bestechenden Bildern – in der Bewegung, aber auch im Standbild des Hintergrunds. Hohe Präzision ist da gefragt (kleine Assynchronitäten wie bei der Diagonale verschwinden, wenn die Premierennervosität verfleucht), die Damen und Herren des Corps schaffen Bilder und dichten Atmosphäre, die wir so schnell nicht vergessen. Das Corps, scheint es, hat sich gefunden.

Bei einer derart „starken“ Bühne darf sich der Graben nicht in den Vordergrund spielen. Dafür ist ein Mann wie Felix Bender genau der Richtige. Er weiß auf den Sekundenbruchteil genau, wann der Tänzer aufsetzt und mit dem Anfangsakkord aufgefangen werden muss. Er spürt, wo Adam „begleitet“, und wo die Musik Urgewalt sein muss. Adolphe Adams „Giselle“ wird gern auch aus dem Radio gehört – wunderbare Musik, in die man sich reinlegen kann. Normalerweise wird nur die Bratsche als Soloinstrument hervorgehoben (diesmal Hardy Wenzel, geschmeidig und gefühlvoll), weil sie in der Tat eines der schönsten Soli spielen darf. Aber die anderen seien nicht vergessen: die Geige, das Cello, die Flöte, die Oboe, ja, auch die Pauken und die Harfe. Die Robert-Schumann-Philharmonie kann nicht nur „schwer“ wie beim letzten Mahler-Sinfoniekonzert – sie kann auch „Wili“, feeisch fein spielen und ländlich sittlich dorfwalzern. Und die vier Hörner (vielbeschäftigt, fast immer lupenrein) geben munter ihr (rum)dada dazu…

Viele Vorhänge. Das Ballett hat dem Theater und den Chemnitzern einen großen Abend beschert. Mit einer Ballettsprache, die modern ist. International und national auf dem Vormarsch. Heute fliegt Sabrina Sadowska nach Tayuan. Schauen, wie man dort die Gegenwart tanzt. Und ob man die Verbindung zwischen Shanxi und Chemnitz noch vertiefen kann. Das Chemnitzer Ballett – internationaler Botschafter in einer Zeit, in der auch in Fernost Pegida über die Bildschirme flimmert und ein (falsches) Sachsenbild zeichnet. Hat was. Toi, toi, toi!