„Ich kann das Sparsystem nicht leiden“

In den knapp neun Jahren, die Beermann in Chemnitz ist, hat er kein Werk für die mehr als 100 Sinfoniekonzerte ausgesucht, das er schon einmal dirigiert hatte – jetzt die Ausnahme. Das hat seinen Grund. Und der liegt nicht nur in der Großartigkeit des musikalischen Kosmos‘ dieser Sinfonie. Im Vorab-Interview mit der „Freien Presse“ machte Beermann aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Ich wünschte mir eine Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Orchesters in dieser Größe und mit dieser Strahlkraft. Aber ich sehe diese Einsicht nicht.“ Mahler hätte gesagt: „Ich kann dieses Sparsystem nicht leiden…“

Ich gestehe, ich auch nicht. Gut, dass jetzt – rechtzeitig, das ist neu – darüber gesprochen wird, welches Theater und welche Philharmonie wir in Chemnitz in Zukunft haben wollen. Und gut, dass ausgerechnet jetzt Beermann, wenige Monate vor seinem Abschied, noch einmal klarmacht, dass zu viel über Geld und zu wenig über Qualität und Wert gesprochen wird. Die weit mehr als 3.000 Zuhörer an den beiden Abenden wollen Mahlers Zweite nicht zum letzten Mal in Chemnitz gehört haben – und die ganzen anderen Mahlers, Bruckners und Wagners. Für die es eben ein Orchester „in dieser Größe und mit dieser Strahlkraft“ braucht.

Weder Annaberg/Aue, noch Freiberg/Döbeln, noch Plauen/Zwickau können einen solchen Mahler spielen. Beim ICE haben wir schon nicht aufgepasst. Das sollte uns in der Kultur nicht auch passieren. Die starken Werke der Spätromantik dürfen nicht nur in Dresden und Leipzig auf dem Fahrplan stehen. Chemnitz und Südwestsachsen bestehen auf ihrer Robert-Schumann-Philharmonie „in dieser Größe und mit dieser Strahlkraft“. Die spürt und kennt auch Torsten Rasch, der Komponist des Oratoriums zum Friedenstag 2015, der mit einem englischen Gast angereist war. Strahlkraft. Rasch weiß, welche Bedeutung die Philharmonie im europäischen, nicht nur sächsischen Kontext hat.

Mahler, das ist üppige Besetzung, aber nicht Luxus. Vor vielen Jahren schon hatte Beermann sich gewünscht, die Sinfonie der Tausend, Mahlers Achte, in Chemnitz aufzuführen. In der Chemnitz-Arena. Der Aufwand wäre zu groß gewesen. Augenmaß muss sein.

Nun also die Zweite, dieses Werk zwischen Tod und Auferstehung. Was sich Mahler dachte, warum er Klopstock mit aufnahm, des Knaben Wunderhorn urlichteln ließ –  geschenkt. Steht alles im Programmheft.

Diese Sinfonie, an der Schwelle der Moderne, ist ein Mosaik aus vielen Motiven, Bildern und Stimmungen. Nebenbei: nicht nur in c-moll, wie ursprünglich über der Partitur stand, sondern in vielen, zum Teil musiker“schrägen“ Tonarten. Fünf „b“, so was mögen Streicher überhaupt nicht, weil die leeren Saiten tabu werden, und schon das Lesen Schwierigkeiten macht, zumal, wenn dann noch gleich ein paar Kreuze auftauchen. Für die Profis der Philharmonie kein Zuckerschlecken, aber auch kein Problem…

So konnte Beermann geduldig herausarbeiten, was ihm beim häufigen Studium der geliebten Partitur aufgefallen war. Hier mal ein Vogelgezwitscher (Flöte), dort ein Drohgedrummel (Kontrabässe). Er ließ die Streicher mal nur pultweise, mal nur jeweils eine(n) spielen. Er hauchte ein Orchesterpianissimo, dass man es eher ahnen als hören konnte, und haute die Orchesterschläge des Schicksals oder der Übermacht rein ins Geschehen – klangvoll, nicht wie manche Kollegen, Lärm hoch drei.

Beermann, der seine Lieblingssinfonie sichtbar voll draufhat, dirigierte zurückhaltend, wo es ohnehin lief, und breitbeinig unter vollem Körpereinsatz, bis sogar der Kummerbund platzte, wenn er dynamischen Schwung herausholen wollte.

Was ihm weniger wichtig war, schien die große Steigerungs-Linie, die manche Forscher und Kollegen vom 2. Satz bis in den gigantischen Schluss hineinzaubern wollen. Zu viel geht oft dabei unter an den kleinen Schönheiten des Mammutwerks, die Ironie des Fernorchesters etwa – irdisches humtata zum philosophischen Ernst auf der Saalbühne etwa, der Gänsehaut-Einsatz des Alts (großartig Marina Prudenskaya mit ihrem Solo im 4. Satz), der Choreinsatz sanft wie eine Orgel, die (nicht musikalisch, nur klanglich gemeint) Verdi-haften Chor-Übersteigerungen des Soprans (glockenhell und durchdringend, klangschön wie eh und je: Julia Bauer, die wir nicht erst seit Eötvös‘ „Love and other Demons“ lieben).

Was dadurch aber immer wieder packend gelang, war, wie Beermann Atmosphäre(n) schuf. Und wie aus dem gigantischen Werk nicht eine Protzsinfonie wurde, kein Schulterklopf- und Beifallabholerstück für teuer bezahlte Gastdirigenten, sondern ein Klanggemälde aus tausenden von Bildtonpunkten – statt an Pixel denken wir lieber an Pointilisten wie Seurat. Nah dran, sieht man nichts. Mahler, auf Effekte beschränkt, bleibt Stückwerk. Erst beim Blick auf das Ganze erschließt sich die Schönheit. 2. Satz – einfach nur ein Ländler, schön dahin gespielt, tänzerisch gezeigt, dass auch ein Mahler leicht sein kann? Nein, Beermann weiß das besser. Jederzeit kann der dissonante Blitz auch in schön erinnerte Momente einschlagen… Ja, deshalb sollte man die große Pizzicato-Stelle auch nicht als Mahler-Gag von den Streichern wie ein Mandolinenzupfensemble im Schoß spielen lassen, sondern die Instrumente unter dem Kinn, am Hals, so wie am Donnerstag. Lustig ist hier bei Mahler nichts. Heiter ist was ganz Anderes.

Das Orchester hat Schwerstarbeit geleistet. Da ist nichts leicht, grad mal so hingeschrieben, in Mahlers Zweiter. In den Gruppen, in den Soli. 16-Mann-Triolen-Abstürze auf den Punkt genau: anerkennend lächelt Beermann dem Konzertmeister der ersten Geigen zu.  Aber man lernt bei Mahler auch Demut: Wie schwer ist das, zehn Hörner giekserlos rund klingen zu lassen, und wie bringt man gleich zwei Paukenbatterien dazu, dieselben Töne einzustimmen…

Nicht umsonst ging Beermann beim nicht endenwollenden Schlussapplaus zu jeder einzelnen Instrumentengruppe und bedankte sich bei seinen Musikern. Mehr als hundert Männer und Frauen, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatten.

Dann aber standen da ganz bescheiden noch zwei „Chefs“: Gunter Berger, der den immer wieder großartigen Dresdner Philharmonischen Chor einstudiert, und Steffen Walther, der seiner Kantorei auch diesen Mahler eingeimpft hatte. Bewundernswert, wie aus den beiden Chören eine Einheit wurde.

Bewundernswert aber auch, dass ein Laienchor wie die Kreuzkantorei bei einer der härtesten Profiprüfungen, wie sie Mahler nun mal ist, bestehen kann. Auch das ist Chemnitz: Mit der Philharmonie können die Sängerinnen und Sänger der Kreuzkirche Werke aufführen, die ihnen sonst versagt wären. Sie werden dadurch so fit und so gut, dass sie auch in einem Mahler und neben den Dresdnern bestehen können. Und haben, beide, die Musiker der Philharmonie und die Choristen der Kreuzkirche ihre Freude dabei.

Beermann hat musikalisch aus diesem Konzert eine Demonstration gemacht. Für die Robert-Schumann-Philharmonie und Chemnitz als Musikstadt. Wie hatte er gesagt: „Ich wünschte mir eine Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Orchesters in dieser Größe und mit dieser Strahlkraft. Aber ich sehe diese Einsicht nicht.“ So pessimistisch sehen wir das nicht. Er kann (zum Thema Einsicht) jeden der mehr als 3.000 Besucher fragen. Er hat sie alle überzeugt.