Und die Menschen im fast voll besetzten Opernhaus fühlen ein Stück jener Glückseligkeit, die Mozart seinen Mitmenschen wünschte: „Ich lege mich nie zu Bette, ohne zu bedenken, dass ich vielleicht…den anderen Tag nicht mehr sein werde. Und es wird doch kein Mensch…sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre. Und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer, und wünsche sie von Herzen jedem meiner Mitmenschen…“ (Mozart, 4. April 1787). So liest es mit unschuldiger Stimme gleich zu Beginn Helena Gläser vor, die dann den Todesengel tanzen wird. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – die Zeilen aus dem gregorianischen Choral (um 750) kannte der katholische Wolfgang Theophilus. Oft wird er sie von den Kanzeln gehört haben…
Auf die Idee, Mozart-„Briefe“ zu choreografieren, ist vor Feistel noch keiner gekommen. Die Briefe: Da wird das Genie auch livrierter puderperückentragender Lausbub (herrlich der kleine Valentin Herzog), balgt sich mit der Nannerl-Schwester und umschwänzelt seine Constanze, gibt dem hochmachtgesegneten Fürsterzbischof einen Korb, bittet dafür den unwilligen Vater um seinen Segen, lebt unter Freimauren und freien Hofdämchen, hat bittere Geldnöte und fühlt sich bisweilen wie eine Collage aus Papageno, Sarastro, Don Giovanni und würde am liebsten mit ihnen allen, seinem gesammelten Ich, unter dem meterhohen Kleid der Königin der Nacht Schutz suchen…
Es gibt so viele Mozarts. Wir alle sind Mozart. Sechs Tänzerinnen und Tänzer verkörpern ihn bei Feistel. Sie springen und laufen, sie balgen und drücken sich, sie sind einsam und formieren sich zu Freundestrauben. Feistel lebt sein Repertoire an Bewegungsballett aus, manchmal braucht er – wie bei ihm gewohnt – gar keine Musik, da ist Bewegung die Musik, er führt Athletik vor, Lemurenrollen auf dem Boden, spaßige „Ich nehm dich beim Schlafittchen“-Figuren, und bisweilen rocken die Tänzerinnen und Tänzer sogar für Momente. Alles drin. Zu zweit, zu dritt, im Ensemble die ganze Kompanie, musicalnah, die gesamte Bühne bespielend – und dazwischen immer wieder der mittanzende, mitspielende, mitleidende Todesengel (große Leistung von Helena Gläser).
Im zweiten Teil das Requiem. Keine ewige Ruhe „requiem aeternam“. Göttlich farbiger Himmel, der Todesengel unter uns, nicht mehr nur Symbol. Das wahre Leben? Das zukünftige, das Hoffnung machende oder erfüllende? Der Tag der Rache und des Zorns, der dies irae? Kein Brief mehr (vorgelesen), nur am Schluss das eine Wort „Mozart“. Erinnert Ihr Euch noch an den ersten Teil? Alles ist Mozart. Der Mensch aus den Briefen und der Göttliche, der auf dem Sterbebett das Requiem schrieb, seines. Nicht nur das für den geheimnisvollen Fremden. Das Irdische dem Himmel so nah wie der Regenbogen.
Die Bühne einfach zu Beginn, ein paar blaue bühnenhohe Rechtecke, himmlisch glänzende Farbglassplitter am Bühnenhimmel beim Requiem. Die Kostüme zeitlos – wir alle sind Mozart zwischen Himmel und Erde, alle stilisiert erkennbar gemacht (Bischof, Freimaurer, die Mozarte). Martin Rupprecht folgte der Intention Feistels (oder war es auch umgekehrt) bis auf’s i-Tüpfelchen.
Gut ausgewählte Musik – des barocken Biber aufregende Mysteriensonaten, frühe Mozarts, späte, nicht so sehr bekannt, dass sich das Publikum nicht gleich wohlig einlullen lässt, die aufregende Opern-Collage von Steffan Claußner, und schließlich das Requiem. In der – wie der ganze Abend – ebenso faszinierenden wie verstörenden Fasssung von Teodor Currentzis.
Ein aufregender, dramatischer Abend – mit großartigen Bildern, einem perfekten Ballett-Ensemble (samt Gästen aus Ballettschulen Hamburg, Berlin und der eigenen). Langer, zustimmender Beifall für Reiner Feistel, die Ballettbetriebsdirektorin Sabrina Sadowska, für das ganze Team. Und vor allem das überzeugende Ensemble.
Zwei Bemerkungen noch am Rande:
CDs sind schön und gut. Für einen solchen Abend können nicht noch Philharmonie und Chor aufgeboten werden. Aber muss die so unterschiedliche Musik so immer gleich aus den Boxen dröhnen? Darf das Biber-Duo nicht leiser, kammermusikalischer sein als das gewaltige „Dies irae“?
Generalintendant Dr. Christoph Dittrich feierte an diesem Tag seinen 50. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch auch vom Theaterförderverein. Er hat den wunderbaren Abend als Krönung des Festtages verdient. Auch wenn die Premiere nicht deswegen (sondern wegen des Aufbaus für die „Meistersinger“ am Sonntag) auf den Freitag gelegt wurde, wie das Geburtstagskind schmunzelnd anmerkte.
Und ein Ärgernis:
Neben all dem Erfreulichen wieder mal höchst Unerfreuliches aus der (städtischen) Tiefgarage. Zu Beginn war der Ticketautomat kaputt. Folge: vom Erlebnis runtergekühlte Stimmung unter den minutenlang Schlangewartenden nach der Vorstellung. Und dann war auch noch einer Besucherin ein Missgeschick passiert. Keine Karte. Schranke blieb zu. Überall sonst drückt dann ein helfender Garagen-Geist auf den Knopf…
Die nächsten Vorstellungen: 20. April, 20. Mai, 3. Juni, jeweils 19.30 Uhr, 29. Mai, 15 Uhr