Zuerst zu den Vieren: Carsten Knödler, der Schauspielchef und die beiden Studio-Leiter Kathrin Brune und René Schmidt hatten bei ihrer „Casting“-Reise mal wieder ein glückliches Händchen. Sie haben vier ganz unterschiedliche Typen für Chemnitz gewonnen. Aber Super-Typen. Lauretta van de Merwe spielt im Stück die Traumtänzerin Marlen, die selbst in der Nacht die Sonnenbrille braucht, dass sie sich von der Umwelt abschotten und noch tiefer in sich selbst hineinfindensuchen kann. Sie kommt von der Zürcher Hochschule der Künste. Andrea Zwicky kann nie, auch nicht in der Nacht stumm liegen. Sie braucht Männer, Männer, Männer, um sich innendrin und überhaupt zu spüren. Sie hat das gemütliche Bern gegen Chemnitz getauscht. Jan Beller als Jakob , wie sein Pendant im Kultfilm Fight Club, schlaflos und hyperaktiv, tags und nächtens, liegt nie halbtot stumm. Er spürt das Leben, wenn er verprügelt wird. Seelisch und physisch. Jan Beller kommt auch vom ruhigstillruhenden Zürichsee. Jannik Rodenwaldt aus Linz zerreißt’s zwischen Pflicht und Neigung. Vor lauter Füße-Waschen (Vater, Jakob oder Steiff-Bärchen) vergisst er das Leben. Und noch nichtmal Maras provozierend hübsches Oberteil macht wenigstens seine unteren Regionen lebendig.
Das Stück: „Schwarze Poesie“ hat Regisseur und Studio-Vater René Schmidt ausgesucht und seinen jungen Schützlingen auf die Haut geschrieben. Vergessen Sie den Titel: Was Thomas Freyer da aus der Drama-Kiste fummelt, ist alles andere als ein stummes Nachtschlafstück. Eher das Gegenteil. Was lernst Du von Eltern, die ständig schuften, beten oder glotzen? Das Leben? O Gott! Aus diesem Gefängnis taumelst Du zuckend raus. Suchst Dich, findest Dich, und merkst, dass Du nichts hast. Begibst dich wieder auf die Suche. Findest, um wieder suchen zu werden. Wen? Dich? Wer bist Du überhaupt? Erfährst Du das je? Wenn Du stumm daliegst, garantiert nicht. Zum Aus-der- oder besser In-die-Haut-Fahren…
Wie das alles abgeht, dieses Suchenfindensuchen, dieses Nahferndraußendrin, dieses Hingebenloslassen – da hat Freyer einen Motivmix aus gefühlt 957 Spontansituationengedankenhandlungen geschaffen. Wie kriegt man solche kruden Texte, Bemerkungen, Sprachhohlklänge auf die Schnelle in die Birne? Wie spielt man ein (wie üblich halb sinnfreies) SMS-Duett? Wie bettet man sich, Luft schnappend, im kaputten Einkaufswagen?
Fragt die Vier. Noch besser: Schaut sie an. Haltet Eure Arme und Schenkel, weil sie weh tun, wenn ihr nur zuschaut, wie Jan Beller auf’s Dach der Bushaltestelle jumpt oder wieder runter, wie er in Unterhose angezogener daherkommt als jede Väter-Schlips- und Kragenfraktion, wie er auf mindestens 12cm-High-Heels mit Stolaboa stolz damenhaft dahertippelt, um, wenn der Spaß (?) vorbei ist, auf denselben Hochhacken wegschlurbt wie ein alter Mann. Schaut Euch Andrea Zwicky an, die Schlangenverführerin, die im Aufreißen alles abreißt und im Kellerloch (heißkalter Slapstick, ganz groß: die blecherne Mülltonne) verschwindet, Glitzer im Haar und ein loses, noch lippenstiftunverschmiertes Maul (wird sich am Schluss ändern) im Gesicht. Guckt, wie Lauretta van der Merwe sich von der verpuppten Puppe zur Ichspringrunter-Selbstmörderin erklärt und gleichzeitig, mit viel spürbarem Respekt, die Leiter nach nirgendwo aufs Blechdach hochklimmt, wie sie Puppenkind spielen kann mit gaaanz großen Augen und die kleine Riesin droben auf dem Dach. Und spürt, wie Jannik Rodenwaldt sich immer kleiner macht und schließlich den Gottvater über die kleine Puppenstube spielt, wo, nicht wie’s dasteht, alles gut wird. Wie er den Plüschtierchen die Haare (nicht in Unschuld) wäscht und – Vaterkind – vom Leben träumt!
Für diese inneräußere Unortnung (der Gag sei erlaubt, wenn Andrea Zwicky im Programmheft schon mit der Ohmacht spielen darf) hat Carla Satoca Berges einen „Unort“ geschaffen. Vor einem (in der Annaberger Str. – die Details stimmen, sind Motive, Bezüge) aufgegebenen Supermarkt (Plakat „Danke für Ihre Tränen“) mit dem leicht von hinten gewandelten Logo „leer.-“ einer realen Kette liegen leere Flaschen, Müll und und Einkaufswagenwracks rum. Berges‘ Kollegin Francesca Ercoli (ebenfalls vom Masterstudiengang „Bühnenbild_Szenischer Raum“ der TU Berlin, mit der das Chemnitzer Studio wieder zusammenarbeitet) zieht die Protagonisten bestechend an und aus. Steffan Claußner sorgt für die Mischung aus Zuckdigitalem und psychodelischem Singklingsimsen.
Und René Schmidt? Der hält als Regisseur diese ganzen Verrücktheiten verortnend im unordentlichen Unort zusammen. Geradezu geometrisch sorgt er für wandernde Publikumsaugen: nach rechts oben, links kurz davor, im Blecheimer, vor der verschlossenen Fluchttür, im mystischmagischen alles-wird-gut-Kreis, auf, in der Bushaltestelle und oben auf dem Dach. Bis zum letzten Tag hat er mit seinen mitstreitenden Schützlingen gekämpft und gerungen (dass Bilder aus dem Programmheft von früheren Proben gar nicht mehr stimmen) – es sollte alles noch präziser im Unpräzisen des Stücks, noch gewöhnlicher im Ungewöhnlichen der Handlungen, noch normaler in aller Verrücktheit rüberkommen.
Aufrüttelnde Studio-Inszenierung wieder mal. Vier junge Schauspieler, die es jetzt schon bringen. Wir sind gespannt auf ihre weiteren Rollen. Und freuen uns drauf.
Die Mitglieder des Theaterfördervereins besonders. Ohne sie gäbe es das Studio nicht mehr.
PS: Unter den Zuschauern Hasko Weber, Generalintendant des Nationaltheaters Weimar, einst auch im Chemnitzer Studio. Er inszeniert auf der großen Bühne des Schauspielhauses Frischs „Homa faber“
Die nächsten Aufführungen: gleich heute, 20 Uhr, dann wieder am 14. Und 30. Oktober, 10. Und 28. November