„Unerschöpflich quillet der Born“ heißt es in dem Männer-Quartett, das Strauss für seinen Freund Kohorn gedichtet und komponiert hat. Das op.113 entstand in diesem Jahr 1925, als er im Orchestergraben die Urväter und Urmütter der Musiker und Musikerinnen der Robert-Schumann-Philharmonie dirigierte. Bis heute unerschöpflich muten die musikalischen Einfälle dieser Vier-Stunden-Oper an. Und Felix Bender, für den der „Rosenkavalier“ ein Straussopern-Debut ist, arbeitet sie, ohne jede Ermüdungserscheinung, auch jede Sekunde heraus. Am süffigen Strauss, wie er in der Walzerfolge oder der Rosenkavalier-Suite gern gekitscht wird, liegt ihm nichts. Er schwelgt nicht in dieser wunderbaren Rosenlikör-Musik. „Ein Gläschen Rosenlikör – stündlich“ sei das Lebenselexier der ältesten Frau der Welt gewesen, die mit 117 Jahren am Freitag gestorben sei, wie die Wiener Presse gestern meldete. Sagt das Programheft…
… und sagt Paul Esterhazy. Der Wiener Regisseur macht diese Frau mit ihren Erinnerungen zur Hauptfigur und zur weiß(haarig)en/weisen Führerin durch das Geschehen. Stumm, gebückt, immer da (großartig: Isabelle Weh), erlebt die alte Feldmarschallin noch einmal die schönsten Stunden ihres Lebens in Gedanken. Verstellt die Uhren, aber jene Sommertage 1938 lassen sich nicht zurückholen, auch wenn der Altenpfleger sie so sehr an die einzige Liebe ihres Lebens erinnert. Jenen Rosenkavalier, den sie damals großherzig der Jüngeren überließ. Wer weiß, wozu es gut war, kommt der lebenserfahrenen Greisin in den Sinn. Der Fähnchenführer von „Jung-Vaterland“, damals süßkräftige 17 und jede Sünde im Lotterbett wert, war später hoher NSDAP-Charge geworden. Und in welchen Schrecken die Braunen die Welt geführt haben, das weiß sie zu genau. Sie hat’s überlebt. Ob Faninal, der Jude (?), und sein Töchterchen Sophie, das ernste unschuldige Ding, das ihr damals die Liebe geraubt hat, noch leben, weiß sie nicht. Sie lebt einsam im Altersheim. Allein mit ihren Gedanken. An ihn, den Rosenkavalier. Ihren Quinquin. Er war doch so süß… Und sie nippt am Rosenlikörchen.
Strauss und Hofmannsthal haben eine „Komödie für Musik“ geschrieben. Das ist sie bei Esterhazy nicht. Ob man dazu in das Jahr 1938 muss? Kann man. Aber die Zeit der Uraufführung (1911, selbes Jahr Erstaufführung in Chemnitz) war genauso von dunklem politischem Grummeln erfüllt wie dieses Jahr vor dem „Anschluss“ Österreichs an das „Großdeutsche Reich“, oder wie die Jetztzeit mit Trump, Kim Jong-un und AfD.
Konsequent ist der Regisseur (hat auch Jura studiert) und selbst in Kleinigkeiten (fast) präzise. Wenn Ochs von Lerchenau mit dem Notar wegen der Mitgift verhandelt, liegt die VOB (Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen) auf dem Tisch, die es allerdings so nur in Deutschland gibt. Er führt die Personen genau: Wenn Octavian als Marianderl in Hauslatschen dahertrappelt, ist sie Spielfigur, eine Marionette, nicht der imposierende Fähnleinführer. So beeindruckend Isabelle Weh die Greisin auch spielt, sie, und das Geschehen um sie, lenken oft vom Hauptgeschehen ab, gehen bisweilen sogar richtig auf den Wecker. Wenn die Alte jung gemacht wird (Empfang während der Morgentoilette) und die Marschallin dann ihr berühmt erschüttertes „Du hast mich zur alten Frau gemacht“ hauchtsingt, dann ist vor lauter Drumrum die innere Erschütterung im Orkus vordergründiger Spielerei verloren gegangen. Klar, dass die Intriganten (Valsacchi, Benedikt Nawrath; Amina, Alexandra Ionis) auch nur noch eine Nebenrolle spielen. Dann wäre es aber auch konsequenter gewesen, den Polizeikommissär (Magnus Piontek) gleich in Gestapo-Ledermantel auftreten zu lassen. Passt vielleicht nicht ganz zum Stück… Mag sein. Aber wenn Octavian in Rokoko- und Fähnleinführer-Uniform auftreten darf, dann müssen auch andere Zeitsprünge erlaubt sein. Wir befinden uns ja in einer Traumwelt, mit Betstuhl im bürgerlichen Salon und Flachschirm-TV im sozialgeholfenen Altersheim.
Theatralisches Zuckerschlecken bei einigen Gags. Jeder Opernliebhaber weiß, dass bei jenem Aufwachen im Lotterbett am Morgen zwei Frauen im Bett liegen. Octavian ist eine Hosenrolle. Und dann huscht da ein nackscher Mann ins Bad… Wenn dann der Sänger beim Morgentoiletten-Empfang auftaucht und nicht nur singt wie, sondern auch aussieht wie (der von Marschallin sen. hochverehrte) Lucianao Pavarotti (herrlich, auch stimmlich: Valeryi Georgiev), dann schmunzelt jeder. Dafür ist die vom Wirtshaus in den Salon verlegte Ochs-Verarsche ziemlich brav. Da gäbe die Chemnitzer Bühne anderes her.
Stark die Sängerinnen und Sänger. Allen voran Sylvia Rena Ziegler als Quinquin (Octavian). In anderen Aufführungen gehen Ochs die Augen über, weil Marianderl ein so hübsches Mädchen ist. Aber hier verliebt er sich auch in die meschuggene, dienende Putze, die immer rechteckig im Kreis läuft. Sylvia Rena Ziegler hat alle Register drauf, welche Rolle sie grad spielen muss und singen darf. Maraike Schröter singt die Liebe („Du bist mein Bub, du bist mein Schatz“) genauso großartig wie den Verzicht. Eine sehr angenehme Überraschung mit ihrer hellen, starken Stimme, die so gar nicht zum braven, belesenen Bügerheimchen zu passen scheint, wohl aber zur im Liebesblitz aufgeblühten Rose: Elena Gorshunova als Sophie. Christian Sist (Ochs von Lerchenau) hat seinen prächtigen Bass aufgewienert, Klemens Sander singt einen beeindruckenden Faninal. Bleibt Regine Sturm als Leitmetzerin, die daherkommt wie die stimmgewaltige Pauline, die leibhaftige Regieführerin im Haus Strauss, mit der nicht gut Kirschen essen war. Schön, dass wir Regine Strauss diese Spielzeit über auch in anderen Rollen in Chemnitz hören können.
Ausgerechnet der Romantiker E.T.Hoffmann hat oft die besondere Klarheit und Schärfe des Blicks beschrieben in deen Sekunden des Aufwachens aus dem Traum und dem Sturz in die Realität. So kommt – vier Stunden lang – Esterhazys Traumrealitäts-Strauss daher. Diesen scharfen Blick richtet Felix Bender auf die Partitur. Zu hören sind kristallklare Formen, ohne dass Sentiment (nicht Sentimentalität) an der richtigen Stelle (Schluss-Terzett) fehlte. Glissandi (Gigen, Celli) kommen an der richtigen Stelle, auch Flöten, Englisch Horn, Trompeten und die Celesta dürfen markante Zeichen setzen. Manche Stellen nimmt Bender schnell, aber gerade da zeigt sich wieder, wozu die Robert-Schumann-Philharmonie fähig ist (faszinierend: das Vorspiel zum 3. Akt!).
Jetzt wollen Sie endlich noch wissen, warum Hofmannsthal nicht zufrieden gewesen wäre? Da hat er sich so viel Mühe mit seinem Text gemacht, so sehr mit Strauss gerungen (siehe Briefwechsel, Teile im Programmheft). Und dann versteht man den Text zu großen Teilen nicht. Übertitel wären dringend angesagt.
Und warum die Bühne ständig drehte? Das ist Esterhazys Geheimnis. (Er hat auch das Bühnenbild gestaltet mit Anleihen an die traumhafte – nicht Traum- Inszenierung von Harry Kupfer 2014 in Salzburg). Ein Versuch*: „‘s ist doch der Lauf der Welt“, singt die Marschallin am Ende des ersten Aktes. Ja, wenn sich das Leben immer so gradlinig abspielte, wie wir es uns wünschen! Nicht mal der Schlenker des Schicksals nach rechts, dann nach links, mal schneller, dann langsamer, dann stockend. Und aus den Fugen. Die Welt. Und unser Leben. Außer in jenen Glücksmomenten, in denen die Welt in Ordnung scheint. Wenn zwei sich finden. Ihre eigene Welt sind. Wie der Silberrosen-Octavian und seine geliebte Rose Sophie. (Wenn der nur nicht statt der weiß unschuldigen die braune Uniform trüge. Aber als Regisseur darf man – ein Mal, zum glücklichen Schluss – sein Konzept auch zur Seite legen).
Viel Beifall. Einhellig für die Darsteller und das Orchester. Einige Buhs für die Inszenierung.
Die nächsten Aufführungen: 8. Oktober, 15 Uhr. 20. Oktober und 4. November, 18 Uhr. 19. November, 15 Uhr.
* Claudia Keussen-Göres hat einen weiteren Vorschlag. Auf Facebook schreibt sie: „Ich habe übrigens die Bewegungen der Drehbühne als Uhrpendel-Bewegungen empfunden. Bei den großen Momenten befanden sich die Sänger dann vorn außerhalb der Drehbühne, so wurde der gefühlte Zeitstillstand sichtbar.“
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