Der Löwe als Marionette

Musikalisch war diese Premiere herausragend. Dabei ist dieses Verdi-Spätwerk vom krachenden Beginn bis zum aushauchenden Ende kein gewohnt ariengeschwängerter Belcanto-Verdi, sondern musikalisch verdichtete Shakespeare-Dramatik. Der Seesturm zu Beginn – Desdemonas Nachtgebet gegen Ende. Welten dazwischen, äußere und innere.

Beermann spielte das Drama aus, in jeder Sekunde. Großprotzige Gotteslästerung und Demut vor dem Unausweichlichen. Teufel und Muttergottes. Am liebsten hätte er wohl das Geschehen vorangetrieben, ohne Pausen, ohne Zwischenbeifall, vom lauthalsigen Sieges-Jubel bis zum bitterwimmernden tragischen Ende. Er konnte sich auf sein Orchester verlassen: Welche Präzision nach zweieinhalb Stunden harter Graben-Arbeit noch im letzten Bläsereinsatz, der wie eine Eins „stand“! Geigen, die mit irrwitzigen Läufen elektrisch aufgeladene Spannung über die pseudoruhigen Bläser zucken ließen! Dieses wahnsinnige Solo der (hier vier) Kontrabassisten zum Eindringen des eifersuchtswütenden Otello in das (gedacht) kerzengeflackerte Lebensauslöschlicht im Schlafzimmer der Todgeweihten! Die Soli von Cello (Thomas Bruder) oder Englischhorn (Claudia Schöne), das fein abgestimmte Holz, das markante Blech! Die Robert-Schumann-Philharmonie erwies sich einmal mehr als eines der besten deutschen Opernorchester.

Nicht nur der Konzertmeisterin warf Beermann beim Beifall dankend seine Rose hin, er drehte sich auch bewusst nach hinten weisend auf den Chor, der großen Anteil an dieser musikalischen Otello-Prachtausgabe hatte. Simon Zimmermann hatte Opernchor, Extra-, Kinder- und Jugendchor zu einer Einheit geschweißt, Stimmfülle präsentierend, wo nötig und gewollt (Anfang), herzerwärmend in der Gartenszene, auch wenn er seine Sangesblumen nur hinter den Kulissen streuen durfte…

Die Protagonisten kennen wir in Chemnitz schon. Der Finne Christian Juslin (Otello) hatte uns schon als „Don Carlos“ als Sänger gefallen. Seine Stimme ist präsent in jeder Phase dieses Lehrstücks von Macht, Eifersucht und Fall. Schauspielerisch kam er besser rüber als damals. Der Nélusko aus der gefeierte „Vasco de Gama“-Produktion, Pierre-Yves Pruvot, singt das intrigante Jago-Schwein mit teuflisch mephistophelischer Häme*). Beim Rache-Duett dürfen die beiden vor an die Rampe. Und das lassen sich nicht zweimal sagen. Verhext verbunden sangen der Teufelverfallene und der Teufel ihren schlimmen Schwur. Großartiges Stück Musik. Mit leichten Vorteilen für Pruvot. Der Schurke heimste am Schluss ein paar mehr Bravi ein als der reuige Sünder.

Die in der Blumenstadt San Remo geborene Natalie Karl, der Jago und Otello keine Rosen streuen, hatte als Desdemona letztes Jahr in Köln großen Erfolg. Der war ihr auch in Chemnitz sicher. Ihre in kräftigen Höhen über Chor und Orchester hinweg ebenso formsichere Stimme wie im leise betenden Amen zeigt eine bemerkenswerte Spannbreite nicht nur in den Tonumfängen, sondern auch im Zaubern von Atmosphären. Wir sind gespannt, wie Mareike Schröter demnächst die Rolle anlegen wird.

Dan Karlström (einst Piet vom Fass in „Le grand macabre“) als rührender Spielball Cassio, Cordelia Katharina Weil (Emilia), Edward Randall (Roderigo), Kouta Räsänen (Lodovico), Thomas Mäthger (Montano) – das Ensemble rundum passend und gut.

„Otello“ sollte einst „Jago“ heißen. Jago treibt die Handlung unerbittlich in seinem Hass voran. Wer handelt, ist aber Otello. Deshalb gab er schließlich der Oper ihren Namen. Der Verdi-erfahrene Regisseur Michael Heinicke (machte in Chemnitz außer „Don Carlos“ auch schon „Nabucco“ und „La Traviata“) gibt wieder Jago das Gesetz des Handelns in die Hand. Spannender als das schlussendliche Tun bleiben immer seine neue teuflischen Einfälle. Der große Feldherr, der „Löwe von Venedig“, ist „Hab-dich-nicht-so“-Marionette seines Fähnrichs. Blickt gar nichts (bis zum Schluss), ist in seiner Gefühlsnaivität als Eifersüchtler genauso Verbrechersünder wie sein teuflisches Pendant. Gefühle sind ihm fremd. Da hilft auch der zurerfundene (warum eigentlich? Soll das uns zeigen, dass der Mohr seine Frau wirklich mal geliebt hat?) Sohn nichts. Otello legt sich auch nicht (wie in der Vorlage) noch einmal zu Desdemona ins Bett, ehe die Erdrosselhände über die liebleibliche Erinnerung siegen, er bringt das Schwert mit – zelebriert es als Symbol der Trennung zwischen die einst Liebenden (ein Schwert im Bett zwischen Mann und Frau heißt: da passiert nichts. Kennen wir seit Tristan und anderen Mittelalterhelden).

Noch ein Symbol? Otello legt sich auf den Tisch und will noch einen letzten Kuss. Desdemona beugt sich runter, küsst ihn. Wendet sich ab. Ja. Genau so. Ratlosigkeit bei vielen Zuschauern. Der Tisch war vorher Feldherrentisch. Mit Generalstabskarte. Karte weg, Frau weg. Geschlagen liegt Otello auf dem Tisch. Kein Feldherr mehr, weil er nicht mehr geliebt wird? Könnte sein… So steht’s im Text von Arrigo Boito.

Überhaupt der Tisch. Symbolort? Besoffener Mann macht sich an willige Rot-Kreuz-Helferin ran. Heißt das: Kampf der Geschlechter? So ist es immer? Die Türken werden ins Meer geworfen, die Frau erdrosselt. Gibt’s keine Liebe mehr unter den Menschen? Sind Sieger die Verlierer?

Oder der rote Herrscherstuhl. Der drappierte Feldherrenmantel, sorgfältig von Christian Juslin nochmal abgetastet nach dem Selbstmordwerkzeug. Der Stuhl, einst Sinnbild der Macht, wird Todesbett. Der Mantel, einst Siegerzeichen, wird ärmliche Zudecke für die Todgeweihte. Ist das so beabsichtigt? Die Welt ist aus den Fugen?

Heinicke und sein Bühnenbildner Peter Sykora müssen offenbar sehr genau „gelesen“ werden, wenn man sie verstehen will. Wenn sie uns zeigen wollen, wozu Leidenschaft, Hass, missachte Liebe und geprügelter Stolz Menschen fähig machen. Auf aktuelle Bezüge verzichten sie. Mohr bleibt Fremder, blackgefacet. Unwillkommener. Böser oder Bösgemachter. Er betet nicht, ehe er stirbt.

Sykora hat ihn angezogen in farbigem Überwurf und Fantasieuniform, wie sich einst Gaddafi präsentierte. Die unschuldige Desdemona (hat Shakespeare den Namen aus dem Griechischen für „unglücklich“ entlehnt?) trägt dafür ein Kätchen- oder Gretchenkleid. Und Emilia kommt daher wie die (allerdings viel hübschere und rothaarige) Verwandte von Rosa Klebb, der russischen Geheimdienstmegäre, die einst James Bond das Leben schwer machte. Der kleine Mohr (David Rafael Núñez Linnemann) in Napoleon-Uniform. Bleiben die vielen Rot-Kreuz-Helferinnen. Sinnbild, dass die Welt Hilfe braucht, aber nicht zu retten ist? Und aus der Geschichte nichts lernt?

Die Bühne ist der große Innenraum eines Kastells. Mit MGs in den Luken wie aus dem ersten Weltkrieg. Der geschlossene, einfarbige Raum lebt vom Licht – vom venezianischen Beamerblütentraum wie vom (beeindruckend!) Grau in Grau der Last des „marmornen“ Himmels, wie es im Text heißt.

Größter Vorteil dieser geschlossenen (und gedeckelten) Kastell-Halle: die Sänger singen nicht stimmverschwenderisch in den absorbierenden Bühnenturm, sondern genießen (mit uns) eine tolle Akustik. Beermann weiß das zu nutzen. Er kann Forte (und mehr) spielen lassen, wenn Verdi es hingeschrieben hat. Und auch im Piano ist jedes Wort zu verstehen, das Orchester tötet nicht den leisesten Bühnenhauch. Es dramatisiert ihn.

Beim neuen Chemnitzer „Otello“ kann man die Augen schließen und einfach nur hören, hören, hören. Eine DVD müsste ich nicht haben. Aber eine CD, die würd‘ ich genießen. Immer und noch einmal.

*) Dieser fleißige Mensch sang bereits am Sonntagnachmittag in Compiegne den Rigoletto! Chapeau!