Auf den Leib geschneidert, in die Finger komponiert

Bartoks „Konzert für Orchester“ ist eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts. Aber nicht jedermanns Geschmack. Desto erfreulicher, dass höchstens eine Handvoll Chemnitzer in der Pause die Mäntel holte. Die anderen erlebten ein Feuerwerk an musikalischen Ideen, an barocken (Fuge!) und neuzeitlichen (Cluster-)Strukturen, geballtem Blechklang, elegischem Holz und furiosen Streichern. Bartók verlangt am Schluss Läufe, die nichts als (gedämpfte) Atmosphäre schaffen sollen und doch so heikel und schnell sind, dass sich die Finger fast verknoten.

Aus mitunter verblüffenden Klangschichtungen ragen die vielen Orchestersolisten einzeln oder in Gruppen heraus, übertreffen einander, ahmen einander teils halsbrecherisch nach (die Flöten die Harfen etwa). Und oben drüber schwebt dann auch mal die Piccoloflöte. Zu Solo-Piccolo-Flötistin brachte Bender denn auch den ihm zugedachten Blumenstrauß. Nach 43 Jahren verabschiedet sich heute Elvira Lang von ihrem Chemnitzer Publikum. Bender selbst genoss (gern, aber leicht verlegen), dass Heidrun Sandmann, Konzertmeisterin an diesem Abend, den Beifallssturm des Publikums einmal allein auf ihn lenkte.  

Das Publikum spürte, was die Philharmoniker wissen: Das „Konzert für Orchester“ verlangt Profis an den Pulten. Aber auch einen an dem vordersten Pult, der diese Fülle an Einfällen Bartóks einzeln zur Wirkung bringt: der die Piccolo-Elegie genauso zelebrieren lässt, wie er Lehars „Dann geh ich zu Maxim“ (über den Umweg von Schostakowitschs 7. Sinfonie) dahinschmalzen lässt. Bei schlechteren Dirigenten entsteht ein durchaus interessantes, farbiges Mosaik aus vielen schönen Steinchen. Bender schafft es, dass trotz aller Einzel-„Kunststücke“ die großen Bögen erhalten bleiben und eine Spannung entsteht, die keine Sekunde der 40 Minuten nachlässt. Was, schon vorbei?… Was für ein grandioses Werk, was für perfekte Musiker, was für ein meisterhafter Maestro.

Gegen Bartók ist „Italia“ die Rhapsodie für großes Orchester einfach nur ein Prachtschinken. Auch Alfredo Casella weiß, wie man ein Orchester brillieren lässt. Und sei es, in dem man acht (!) Schlagzeuger auffährt oder Ohrwürmer dissonant verfremdet. „Funiculi, funicula“ zum Beispiel, jenes beliebte napolitanische Volkslied, das eigentlich von Liebe und der Seilbahn zum Ätna handelt, das aber auch für die „Kuh von Barcelona“ herhalten muss, die keine Milch mehr hat, weswegen Magermilch zum letzten Schrei wird, oder von den Hot Dogs einst albernd umgedichtet wurde („Schaug hi, da liegt a toter Fisch im Wasser“). Aber dafür kann Casella nichts. Er komponiert Eruptionen und Lavaströme wie die vom Ätna, kann aber auch wunderschön elegisch aufs ruhige sanftwellenblaue Mittelmeer hinausschauen und das Englischhorn dazu sehnsüchteln lassen.  Das ist alles mächtig gewaltig und dann wieder rührend. Lässt das Orchester und dessen Solisten glänzen und den Dirigenten strahlen. Da ist der Beifall sicher. Der kam auch wie das Amen in der Kirche. So was zieht sich jeder gern mal rein. Gerade an einem tristen Novemberabend ein Auftakt nach Maß. Aber auch nicht mehr als eine Vorspeise für ein Menü, in dem Bartók und Brahms für Gelingen oder Misslingen sorgen.

Ein Herz und eine Seele: Bender und die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie

Im September 1897 dirigierte Johannes Brahms in einem von Clara Schumann organisierten Privatkonzert im Weinbrennersaal des Baden-Badener Casinos die Uraufführung seines Doppelkonzerts. Geige spielte Brahms-Freund Joseph Joachim, am Cello erlebten die illustren Freunde Robert Hausmann. Das Orchester war das renommierte Orchester der Bäderstadt. Wie der Zufall so will: Im selben Saal dirigierte Tausendsassa Felix Bender wenige Tage vor dem Konzert in Chemnitz die Nachfolger der Musiker von damals, die Philharmonie Baden-Baden (u.a. mit Tschaikowskis Violinkonzert und Wagners C-Dur-Sinfonie).

Als ob er die Stimmung des prachtvollen Saals und des lieblichen Baden-Badener Schwarzwaldtals, in dem Brahms einige Zeit in der Nähe von Clara Schumann (auf-)lebte, aufgesogen hätte, brachte Bender uns einen Brahms mit voller Poesie, voll innerer Glückseligkeit, aber auch voller verzweifelter Momente – die liebe Clara war trotz der Nähe weit weg, und zwischen Brahms und Joachim brannte die Luft. Geige und Cello die Gegensätze, die sich anziehen, das Orchester als Ausgleich, Anreger und Versöhner. Bender gab sich gar nicht der Versuchung hin, die schönsten Stellen romantisch auszuwalzen oder das Orchester lauthals dominieren zu lassen. Er ging mit dem Orchester stilsicher und rücksichtsvoll auf die leise Zurückhaltung der Geige in den Höhen ein, nahm dem Cello allzu markante Doppelgrob-Abstriche und führte beide zusammen mit den Orchesterinstrumenten zu einem fröhlich versöhnenden und schließlich prachtvollen Schluss.

Lea Birringer (Violine) konnte sicher sein, dass Bender jeder leisen Regung folgt. Sie will nicht brillieren auf Teufel komm raus. Auch in schwierigen Passagen „dient“ sie Brahms. Andrei Ioniţă (Cello) fühlte sich eingebettet in einen Gesamtklang, auch wenn ihm manchmal die Gäule seines mächtig klingenden Rogeri-Cellos durchgehen wollten. Als ob die liebliche Oos und die schroffen Schwarzwaldhänge sich in ein wunderschönes Gesamtbild fügten, wie es Baden-Baden im Sonnenschein bieten kann, schuf Bender einen faszinierenden Gesamtklang. Riesenbeifall. Und schienen die Solisten sich im Anfang noch ein bisschen finden zu müssen, in den kleinen Encores als Zugaben (einer Gavotte von Reinhold Moritzewitsch Glière (1875 – 1956) und einer Bearbeitung der Bach’schen Invention Nr. 1) zeigten sie eine herzliche Übereinstimmung.

Stars des Abends neben Bender waren einmal mehr die Musikerinnen und Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie, denen die Kompositionen wie auf den Leib geschneidert oder in die Finger komponiert schienen. Spürbar, wie gut sich Bender und „sein“ Orchester verstehen. Er geht leider am Ende der Spielzeit. Aber Gott sei Dank behält er einen Koffer in Chemnitz.

Heute Abend, 20 Uhr, wird das Konzert in der Stadthalle Chemnitz wiederholt.