Wenn die Revolte im Kleiderberg erstickt

Das Licht geht aus. Alle sind tot oder verschwunden. Das Stück ist fertig. Jeder weiß es. Doch die zum Beifall halb erhobenen Hände halten still. Eine gefühlte langelange Minute lang. Dann geht das Licht an – der Beifall prasselt los.

Koca, der Fuchs, in Chemnitz längst kein Unbekannter mehr, hatte es wieder einmal geschafft – hatte das Publikum aller Zuschauerdistanz beraubt und es – wehrlos – mitten ins Stück geholt. Unmerklich ging das gleich am Anfang los. Erst als Zofe Claire im Arbeitermantel Einlass gibt, dürfen die irritierten Draußen-Menschen eintreten ins bourgeoise Gemach – sich ihren Platz auf den nobel stoffverhüllten Sitzgelegenheiten (Koca hat auch die Bühne gemacht) vor allen Wänden suchen. Sie sind Teil des Geschehens. Und der Stille, der stillen Ausweglosigkeit, mit der Koca Genets Stück beginnen und enden lässt.

Ob Genet immer auf der Seite der Schwachen steht, wie das Programmheft suggeriert, sei dahin gestellt. Der skandalumwitterte schwule französische Dichter, oft im, mehrfach auf der Schwelle zum Knast, der aber auch die „großen Scheine“ seines Verlegers Gallimard liebt, ist der Mann der Revolte, wie er selbst (in einem Interview mit der ZEIT vor fast 40 Jahren) sagte: „Ein Mann wie ich ist kein Anhänger von irgendwas. Ich bin ein Mann der Revolte. Mein Standpunkt ist sehr egoistisch. Ich möchte, daß die Welt sich nicht verändert, damit ich mir erlauben kann, gegen die Welt zu sein.“

Konsequent steht der (1910 geborene) Autor auf der Seite der RAF und der „Black Panthers“, aber er gehört auch der staatlichen Ordnungsmacht an, dem Militär. Mehrfach verdingt er sich – sucht sich allerdings Truppenteile aus, die nicht gerade als Freunde in Uniform gelten: in marokkanischen und algerischen Schützen-Regimentern.

Revolutionen fressen nicht nur ihre Kinder, wie jeder Franzose seit 1789 weiß, Revolten ersticken sich selbst. In jenem ZEIT-Interview hat Genet das auf den Punkt gebracht: „Im Mai ’68 haben die Studenten ein Theater besetzt, das heißt, einen Ort, aus dem jede Macht verjagt wurde, wo allein die Theatralität übriggeblieben ist. – Wenn sie noch das Palais de Justice besetzt hätten – … sie wären gezwungen gewesen, Urteile zu fällen, Leute ins Gefängnis zu stecken.“ Sie hätten just das tun müssen, wogegen sie revoltiert hatten…

Auch die Zofen revoltieren gegen ihre Herrin – versuchen es zumindest. Dabei ist Herrin sein ihre einzige denkbare Alternative. So spielen sie Herrin – und trinken (letztlich) den – der Gnädigen Frau zugedachten, von der aber verschmähten – vergifteten Lindenblütentee selbst. Unter Himmelswolken von Herrin-Kleidern schaut die gifterstandene Claire am Schluss ratlosrevoltet ins schwindende Licht. Alles für die Katz?

Als Koca die Regie für die „Zofen“ erarbeitete, konnte er nicht ahnen, was derzeit in seinem polnischen Heimatland passiert. Die PiS, die Partei für Recht und Gerechtigkeit unter der grauen Eminenz Jaroslaw Kaczynski, vollführt nach den Wahlen vom Sonntag gerade den Salto rückwärts in einen Polizeistaat. Einstmals wollten „Revolutionäre“ wie Solidarność-Gründer Lech Walesa das Volk just daraus befreien… Jetzt soll es wieder selbst vergifteten Lindenblütentee trinken…

Wohin Revolte führt, und ob überhaupt irgendwohin, hat kaum einer so eindrücklich in Worte gemeißelt wie Genet. Nicht nur Sartre bewunderte ihn dafür. Auch Koca nimmt Genet ernst. Großartig die Idee mit dem Tonband. Sprache mehrfach – die Zofen kennen die Wutausbrüche der Gnädigen auswendig. Aber nicht nur, weil sie sie tausend Mal gehört haben, sondern weil sie selbst so wären. Zöge man ihnen den Arbeitsmantel aus (Kostüme: Ricarda Knödler). Da tragen sie denn auch passend oder erschröcklich unpassende, vornehmvorspiegelnde Strapse. Und die Herrin stakst in ungewohnten zu großen Stöckeln durch das Revoltenchaos. Im trüben Spiegel sieht man nur sich, und auch das vergitterte, milchige, nur über eine wackelige Leiter erreichbare Fenster nach draußen erlaubt nur einen Blick ins Innere, wo sich der Totenzug der Dienstboten in einem grotesken Bild des Scheiterns entwickelt.

Die Geschichte der Zofen könnte ein sozialkritischer Stoff sein oder der Plot eines Krimis à la „Arsen und Spitzenhäubchen“. Eindimensional. Tragisch oder komisch.

Hier aber sind Schauspielerinnen gefordert, die changieren können, die für Momente sie selbst (ihre Figur natürlich) sein dürfen, dann wieder die Schwester oder die Herrin. Die Mörderin und die Gemordete. Die Schlurbdienerin und die Überheißgeschminkte. Die Befehlshysterikerin und die Duckmäuserversagerin.

Ihre Gesichter sind nur Zentimeter von den stillen Zuschauern entfernt, jedes Mienenspiel erkennbar, jedes Augenblitzen auch, und jede Trübung des Blicks. Jedes Wort spricht auch zum Zuschauer, er ist dabei, unmittelbar im Gemach, verfolgt jede Bewegung, auch die kleinste. Spräche sie nicht, er würde es sofort merken.

Susanne Stein, Christine Gabsch und Lysann Schläfke haben eine hochkonzentrierte, stark beeindruckende Leistung abgegeben. Alles Bibbern weg. Allein der Schauspielerinnen wegen lohnt sich der Besuch. „Festung.Ich“ heißt das Motto der Spielzeit. Wie Koca an Genet zeigt, dass Ich/Mensch keine Festung bin/ist, das beeindruckt. Vielleicht auch deswegen das lange Schweigen am Schluss.

Die nächsten Vorstellungen: 7., 13., 19., 28. November