Jeder ist Jemand

Der Münchner Prozess um den NSU und Beate Zschäpe machen zwar Schlagzeilen, aber der NSU, der vor fünf Jahren in Zwickau aufflog, seine Hintergründe, die Opfer, die Auswirkungen – die Konsequenzen, die wir ziehen müssten, das alles spielte kaum mehr eine Rolle, wären da nicht Leute wie Franz Knoppe von den Grasslifters, der mit seinem Team seit eineinhalb Jahren an diesem Theatertreffen gearbeitet hat und Mitdenker und Mitmacher quer durch ganz Deutschland fand. Generalintendant Christoph Dittrich, der Hausherr, dankte ihm in einem Willkommensgruß zu Recht. Und er wünschte „Wirkung“ in die Gesellschaft hinein. Ja, auch das ist eine, vielleicht die wichtigste Aufgabe des Theaters.

Der Terror des NSU, dem zehn Menschen zum Opfer fielen, wurde hauptsächlich durch Überfälle in Chemnitz finanziert. Glück schon für unbeteiligte Passanten, dass die Schüsse beim ersten Überfall auf eine Edeka-Filiale in der Irkustker Straße kurz vor Weihnachten 1998 niemanden trafen. Und dass die vielen anderen Überfälle auf Post- und Sparkassenfilialen in der Stadt keine Opfer forderten. Das Terror-Trio lebte in der Stadt – Nachbarn, von niemandem entdeckt.

In der Kölner Keupstraße jagten die braunen Terroristen am 9. Juni 2004 eine auf einem vor einem türkischen Friseurgeschäft abgestellten Fahrrad montierte Nagelbombe in die Luft. 20 Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Verdächtigt wurden die Opfer. Nach rechtsextremen Tätern suchte niemand. Zu einfach war es, in der hauptsächlich von Türken frequentierten Straße auf ethnische Konflikte zu schließen, zwischen Türken und Kurden, zwischen Sunniten und Schiiten, oder gar Mafia-Kämpfe südosteuropäischer oder türkischer Clans. Kein Ruhmesblatt für Polizei, Staats- und Verfassungsschutz. Und Fremdschämen dafür, dass sie alle nicht für falsche Verdächtigungen um Entschuldigung gebeten haben.

Um das Attentat in der Keupstraße und die Auswirkungen geht es in Nuran David Calis‘ Stück „Die Lücke“ vom Kölner Schauspiel. Drei Türken – drei Deutsche – getrennt durch die Herkunfts-, Glaubens-, Moral-Lücke: Müssen wir sie überwinden, muss einer wie der andere sein, ist nicht Jeder ein eigener Jemand?

Das Stück ist in Chemnitz nur gestern Abend aufgeführt worden, hat es aber schon auf 65 Vorstellungen gebracht! Bei diesem Thema! Keine große Rezension deshalb: Was zieht, und für die fast zwei Stunden pausenlos in Bann hält, ist die Authentizität, mit der die deutschen und türkischen Akteure sich (und uns) verkörpern. Sie denken, vorurteilen, lernen – und lehren (auch mit erhobenem Zeigefinger – bisschen viel). Da gibt’s auch schon mal eine türkische Wutkanonade (verständlich) und Deutschdummschwätz. Erschütternde Videostatements treffen auf banale Slapstickkomik (wie beten Sunniten, wie Schiiten). Die Akteure arbeiten ständig aktualisierend am Text – das Video von den ersten Aufführungen sah noch anders aus. Aber Erdogan kommt noch nicht vor…

Die alte Keupstraße wird es wegen dem NSU nicht mehr geben. Aber es darf auch nie mehr sonst wo eine Keupstraße vom Juni 2004 geben. Oder wegduckende Nachbarn wie damals in Chemnitz…

Zur anschließenden Diskussion (ab 22.30 Uhr!) blieben mehr als 100 Leute! Klar, wer da war, geht rechten Schlammscheißern nicht auf den Leim. Schade ein bisschen, dass die Judikative (gerade wegen des Prozesses in München) so angegangen wurde, weil sie politische Hintergründe so gar nicht mit einbeziehe. Gott sei Dank, oder Allah, dass sie das nicht tut. Wir wollen niemals wieder politische Gerichtshöfe…

Guter Auftakt für das Theatertreffen. Das Fernsehen (viele Sender waren da) fand reichlich Stoff. Wenn vom Theatertreffen die Botschaft in die Lande geht, dass Sachsen nicht nur Pegida oder Flüchtlingsheimstürmerei ist – gut so.

Heute Abend geht es weiter beim Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“. Mit der eigens dafür geschriebenen Uraufführung „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“. Ist leider ausverkauft. Wie’s war, lesen Sie morgen hier.

Die weiteren Vorstellungen: 3., 10. November, 1. Dezember 2016