„Das Labyrinth“: Chemnitz war zehn Jahre früher dran

Kein lebender Kritiker hatte die komplette Oper bis dahin gesehen. Deshalb waren sie nach Chemnitz gereist. Auch Stephan Mösch von der FAZ. „So kommt Musikgeschichte unerwarteterweise als unterhaltsames Live-Erlebnis daher“, notierte er nach der Chemnitzer Aufführung: „Ein homogenes Sängerensemble wird den über Mozart weit hinausgehenden Ansprüchen in bezug auf labyrinthische Koloraturen und extreme Lagen virtuos gerecht.“ Auch der „Spiegel“ zeigte sich überrascht vom „Coup der Musikforschung“ und dem „Clou des Spielplans“ der Chemnitzer Oper.
Doch plötzlich – allen guten Kritiken zum Trotz – war das Stück wieder weg vom Fenster. In der Versenkung verschwunden. Bis der neue Intendant der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira, es jetzt erneut ans Tageslicht holte. Als Hommage an Emanuel Schikaneder, der vor 200 Jahren gestorben ist. Und der als Textdichter von Mozarts „Zauberflöte“ einer der meistgespielten Autoren der Festspielgeschichte überhaupt ist. (Was natürlich keiner laut sagt. Wer kennt schon Herrn Schikaneder? Wenn Mozart drauf steht, klingelts in den Kassen der Festspiele).
Schon in den Kassen von Schikaneder hatte es geklingelt, wenn die „Zauberflöte“ auf dem Programm seiner Wiener Vorstadtbühne stand (übrigens: mit Schikaneder auch als Papageno). Wenn was gut läuft, muss ein zweiter Teil her. Nicht anders als heute. Doch nun war Mozart tot. Schikaneder kaufte der Konkurrenz kurzerhand den Star-Komponisten Peter von Winter ab (zwei Jahre vor Mozart, in Mannheim, geboren). Der schrieb, auf des Impresarios Libretto, 1798 wie gewünscht die musikalische Fortsetzung: „Das Labyrinth oder Der Kampf mit den Elementen“, den „zweyten Theil der Zauberflöte“, wie Schikaneder dem Publikum klar machte. Damit stand (fast) Mozart drauf, auch wenn kein Mozart drin war. Das Wiener Publikum aber war nicht doof.
Schikaneder verkaufte das Stück nach Berlin, wo es 1803 aufgeführt wurde. Bald danach lange Sendepause – 1930 Kiel, 1978 München, zwei Versuche, nur mit Teilen der Partitur auf den Pulten, ohne die Original-Texte. Reinfälle. Anfang der 90er-Jahre rekonstruierten die Musikwissenschaftler Manuela Jahrmärker und Till Gerrit Waidelich das Libretto, in der Berliner Staatsbibliothek fanden sich die Noten der Aufführung von 1803. Aus all dem machte der Publizist und besessene Zauberflöten-Fan Manfred App mit Computer-Hilfe seine fast viertstündige Fassung der Oper.
Als „Herausgeber“ bot er die Aufführungsrechte an, Rolf Stiska schlug zu. „Temperamentvoll, und mit neuem Wissen“ (FAZ) gelang eine wunderbare Aufführung der „ersten musikalischen Originalfassung nach dem Original-Libretto von Emanuel Schikaneder nach der Berliner Aufführung von 1803″, wie es im Programmheft hieß. Für die prächtige Ausstattungsoper hatten sich die Verantwortlichen der Oper große Mühe gemacht – schließlich feierten die Chemnitzer das 10. Jubiläum der Wiedereröffnung des Opernhauses. Die Dramaturgie (Volkmar Leimert) strich kräftig, und Fabrice Bollon machte die Partitur spielbar, Sabine Sterken inszenierte die „gekürzte Bühnenfassung“. Wir erinnern uns noch gern an Jana Büchner (Pamina), André Riemer (Tamino), an Andreas Kindschuh und Ute Baum als Papageno und Papagena, all die anderen Ensemble-Mitglieder und den Gast Simone Schneider (Königin der Nacht).
Alles hätte noch lang so schön sein können – hätte nicht der „Labyrinth“-Missionar Manfred App jeder („seiner“) gekürzten Noten hinterhergeweint. 2.272 Takte hätten die bösen Chemnitzer geändert, klagte er vor dem Landgericht Leipzig. Die Chemnitzer müssten sofort die Noten rausrücken. Rund 44.000 € Schadensersatz wollte er überdies. Weitere 124.000 € Schadensersatz verlangte er (noch 2007!) vor dem OLG Dresden, weil es wegen der Kürzungen nicht zu einer Tonträger-Aufzeichnung gekommen sei. Nichts davon klingelte in Apps Kassen. Aber die Chemnitzer durften das Stück nicht mehr aufführen.
Jetzt, nach zehn Jahren also Salzburg. Die Festspielleute gingen es vorsichtig an mit Herrn App. Im Programmheft ist der ganze Text abgedruckt, nur ein paar Zeilen (die nicht gesprochen wurden) sind in mattes Grau gesetzt. Ivor Bolton, Chef des Mozarteumsorchesters hat das Aufführungsmaterial „für diese Produktion eingerichtet“ , vermerkt das Programmheft verschämt und versteckt unter dem Rechteinhaber App. Kürzen durfte er nicht. Obwohl: „An manchen Stellen der Oper hätte vielleicht etwas mehr Kürze und Knappheit nicht geschadet“, bemerkt der Dirigent in einem Interview. Ja, das hatten die Chemnitzer auch schon festgestellt (angesichts von allein 50 Minuten Finale im ersten Aufzug!). Und Bollon hatte es gemacht…
So direkt geht man in Salzburg nicht vor. Die Ohrfeige kommt eleganter: Der Herausgeber darf nur einen klitzekleinen Beitrag fürs Programmheft schreiben – ganz hinten. Und der Text wird auch nicht, wie alle anderen, ins Englische übersetzt. Es muss ja nicht jeder wissen, dass Herr App meint, die Figur des Tipheus im „Labyrinth“ sei Napoleon, Paphos (auf Zypern!) liege unweit der Insel des Korsen, der erste Teil der Zauberflöte sei auf den zweiten bewusst hingeschrieben, und Mozart sei „entfernt worden“ , ehe er den zweiten Teil hätte komponieren können. Normalerweise sorgen die Salzburger Programmheft-Gestalter dafür, dass sich ihre Autoren nicht blamieren…
Und die Aufführung? Lang war sie, fast vier Stunden mit schlechter Sicht auf harten Holzbänken, mit einer dünnen Fleece-Auflage eher als Schutz für die Garderoben-Seide als für geplagte vier Buchstaben. Und trotzdem war sie schön. Farbenprächtig. Tolle Kostüme – ein Riesenaufwand. Eine Musik, in keiner Sekunde so spannend wie die in der Zauberflöte, aber gefällig. Ein herausragend guter Bach-Chor, ein wunderbar aufgelegtes Mozarteum-Orchester. Ein Michael Schade mit seinem alles überstrahlenden Tenor, der allerdings nicht daherkam als holder Jüngling, sanft und schön, sondern eher wie ein rundlicher Fallstaff, seine Pamina (Malin Hartelius) – auch festgeklammert auf eine in die Höhe gefahrene Mondsichel – absolut sicher in den Koloraturen (Winter verlangt sie nicht nur von der Königin der Nacht). Viele kleine bunte Kinderlein – Geschwister von Papageno und Papagena, nicht deren Kinder. Dazu ist noch zu wenig Zeit verstrichen. Die Oper beginnt unmittelbar nach Ende der „Zauberflöte“ mit der Hochzeit von Tamino und Pamina. Vielleicht in neun Monaten…
Wäre das nicht was für eine Fortsetzung, einen dritten Teil, Herr App?
Mit dem „zweyten“ sieht es auch nach dieser sündteuren Produktion nicht so gut aus. „Umjubelt, aber entbehrlich“, kommentierte der ORF. Welches Haus kann sich das heute noch leisten?
In der Chemnitzer Fassung stünde der „Zweitkarriere dieser Zweitverwertung landauf, landab nichts mehr im Wege“, die sich der Kritiker des „Tagesspiegel“ wünscht. Aber die hat er ja leider nicht gesehen. Sie muss ihm „unerklärlich bleiben“. Er hat Manfred App nicht kennengelernt.