Bescheiden kam der Chef erst ganz spät raus auf die Bühne. Und zog sich beim Beifall hinter seine Truppe zurück. Ihr gönnte er den Erfolg seiner ersten Ballett-Premiere in Chemnitz. Er muss die neue Kompanie aus „Neuen“ (gefühlt mehr) und „Alten“ formen, muss sie in diesen harten Theaterzeiten, wo Ballettkompanien schon mal gern über die Wupper gehen, wenn sie nicht gerade Pina Bauschs Namen tragen, zum Publikumsliebling machen. Er hat mit emotionalen Widerständen zu kämpfen von Freunden von Lode Devos, der unschön gegangen ist. Darf deshalb nicht auf den Popularitätsknopf drücken, dass die älteren Damen – schluchz, war das schön – nach Hause gehen und die anderen – trän, was haben wir verloren – nachträglich ein virtuelles Denkmal bauen.
Reiner Feistel hat (zu Recht) großes Selbstvertrauen. Er weiß, was er kann, und was er dem Publikum und den Kritikern zumuten darf. Er setzt darauf, dass dieses Feistel-Dornröschen/seine Aurora ein nachhaltiger Erfolg wird. Besetzt von vornherein alle Solisten doppelt, dass nur ja nie eine Vorstellung ausfällt. Sorgt dafür, dass auch die Soli im Orchester immer bestens rüberkommen (Hartmut Schill und Heidrun Sandmann; Geige, Thomas Bruder und Jakub Tylman, Cello). Und er erreicht damit noch was anderes: dass die Kompanie sich als Ensemble (ein „wir“) versteht, keine sich als Prima fühlt, auch wenn eh keine Ballerinas an den bloßen Füßchen trägt.
Dass der GMD nicht auch bei „Dornröschen“ seine Robert-Schumann-Philharmonie dirigiert, passt. Er kann nicht immer hier sein, ist in der halben Welt unterwegs. Dafür erlebte das Premierenpublikum zum ersten Mal Arnaud Arbet, den neuen 2. Kapellmeister der Philharmonie. Der muss ja (fast) immer da sein…
Na denn, fangen wir mit der Musik an. Wie schrieb eine Besucherin nach der Premiere abends noch auf Facebook: „Super Leistung der Musiker, aber selten eine langweiligere Choreografie gesehen…“ Das „aber“ sehen wir anders, dazu kommen wir noch. Der Anfang stimmt. Arbet dirigiert den Tschaikowski mit großen Gesten, formuliert einen berauschenden Klang, den Walzer schöner, als in vielen Sonntagmorgen-Wunschkonzerten aus dem Radio. Auch die subtilen Stellen sphären meist inniglichst. Arbet kann sich auf seine neuen Kollegen von der Robert-Schumann-Philharmonie verlassen. Die haben das drauf. Heidrun Sandmann ließ das schwere Solo mit den verbösfeeten Läufen perlen wie bestes Prickelwasser, Jakub Tylmann das mindestens ebenso schwere Cello-Solo , mit dem man technisch nicht brillieren kann, daherschmusen wie den flüssigen Kern einen warmen Schoko-Törtchens. Nicht zu vergessen die zu Unrecht nirgends erwähnte Flötistin Gudrun Jahn mit ihren hingetupften Brillies in Traumhöhen.
Noch nicht immer klappte synchron die Bewegung auf der Bühne mit dem Schlag des Dirigenten, vor allem bei den (von Feistel offenbar) geliebten Standbildern auf den Schlussakkorden. Manchmal auch war auf der Bühne die Geschichte noch nicht ganz zu Ende erzählt, als das Orchester längst zum nächsten Satz vor- oder (dramaturgisch gewollt) zurückblätterte.
Bisweilen war das gewollt. Feistel interessiert nicht, dass hunderte von großen Kollegen Tschaikowsky-Sechzehntel automatisch in Trippelschritten auf Spitzen verwandelt haben. Feistel erzählt zuallererst eine Geschichte. Falsch: lässt ein Märchen träumen. Charles Perraults Märchen von der schlafenden Schönen im Wald (1696), die von ihrem Prinzen träumt. Aurora (die Morgenröte) ist kein abendliches Dornröschen, das von Biedermeier-Oma den Enkeln zum Einschlafen vorgelesen wird. (Merkt Kinder: wer gleich brav ist – keine Dornen aufstellt, muss nicht hundert Jahre warten, bis der Prinz kommt.) Aurora kämpft die Nacht nieder. Die Nacht der Elternmacht, die den (spät-)pubertierenden Teenager in ein Gefängnis von Geschenkmauern packt. Grimms Dornröschen schläft und wird wachgeküsst. Mit ihr geschieht was. Perraults Aurora kämpft um die Erfüllung ihres Traums. Und ihren Traummann.
Feistels Geschichte ist nicht Ballett im eigentlichen Sinn, obwohl es auch wunderschöne Tanzfiguren gibt (Pas de deux im dritten Akt). Es ist ein Schau-Spiel (bisweilen auch – Tantenfeen – ein Show-Spiel). Die alte, seit Salieri und Mozart immer wieder gestellte Frage „Was kommt zuerst, die Musik oder die Worte?“ wird hier eindeutig beantwortet: die Worte. Hier allerdings gesprochen mit den Körpern. Das Aufbegehren der kecken Aurora gegenüber ihren allzu fürsorglichen Eltern – wann könnte man das so expressiv (bisweilen fast spastisch) in Oper oder Schauspiel erleben, ohne gleich in Lacher auszubrechen? Warum sollen nicht Tschaikowsky-Sechszehntel oder -Triolen statt zu Trippelschritten zu ekstatischen Arm- und Bein- und Fußbewegungen, rollenden Augen und gefletschten Zähnen erklingen? Warum sollte nicht das Tantengelaber als dümmlicher Erzieherinnenmarsch inszeniert, warum nicht der Frosch auch zu Tschaikowsky rocken dürfen, wenn die Musik (obwohl schon mehr als 120 Jahre alt) rockt?
Nö: die höchst präzise Choreografie bis hinein in jede einzelne Bewegung soll und darf nicht auffallen. Die Choreografie spielt das innere Geschehen in Aurora und den anderen Protagonisten nach – da wirbelt kein ästhetischer Schleier über die Bühne, den man interpretieren kann, wie man will. Bei Feistel zeigt jede Bewegung, was sie meint: Kämpfen, loslassen, Trauer, Freude, Schmerz, Erlösung. Und – wenig erstaunlich – die Musik passt dazu. Weil sie all diese Seelen- und Gemütszustände in Noten und Instrumentation gefasst hat, die zu Recht dieses „Dornröschen“ zu einem von Tschaikowskys schönsten Werken werden ließen.
Die Protagonisten der Premiere verdienten hohes Lob, besonders und vor allen (auch wenn sie demnächst wieder ins Glied der Tanten rückt) die kleine Aurora (Helena Gläser) – sprechend mit jeder Sehne, bis in die Fingerspitzen und die Zehennägel, mit jedem Muskel die Aufmüpfige, Sehnende und träumerisch Verliebte – nicht nur künstlerisch, auch physisch höchst beansprucht. Erkan Kurt (König) und Natalia Krekou (Königin), die schechtesten Eltern der Welt, weil sie nur das Beste wollen für ihre Tochter, die was ganz anderes will – die Seriösen, was sollen sie auch rumzappeln, der Traummann (Friedemann Kriener), Sympath in jeder Faser und Phase, der Prinz (Norbert Kegel), arrogantes normgerechtes Gesellschaftsferkel, Die Fee Carabosse (Mu-Yi Chen), hyperbewegliche Koboldschwester von Shakespeares Puck, der Frosch (Norbert Matkovics), der erotische Farbtupfer.
A propos Farbe: Alles bunt, die Kostüme, die Lampions, die violette Luft, die Rousseauschen Blätter der Kulisse (sie sind wie die Königs-Eltern – geordnet schön, naiv, aber nicht wirklich Natur wie die Berge im Sonnenglanz, die eigentliche Heimat des Sonnenmädchens Aurora). Da steckten so viele Ideen drin, dass Stefan Weil (Bühne und Kostüme) manchmal ganz vergessen zu haben schien, dass da irgendwann die Musik aufhört, der Vorhang zugeht und der Zuschauer das Schlussbild – das Sonnenmädchen hat seine Sonne gefunden – noch gar nicht richtig gesehen hat.
Interessante, stimmige Aufführung. Auftaktsieg für Feistel und die Kompanie. Jetzt kommen die Mühen der Ebene… Operetten, Opern, Alltag. Auch für ein großartiges Ensemble wie die neue Chemnitzer Kompanie gibt es nicht nur Dornröschen-Feiertage. Stadttheater. Harte Arbeit. Auf hohem Niveau.
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Die nächsten Aufführungen: 30. und 31. Oktober, 5. und 6. November
Das schreibt die Freie Presse am Montag
Größerer Video-Beitrag dazu im Theatermagazin SZENE