Auch russisch top

Nach der großartigen „Turandot“, dem lockeren „Pimpernel“ („Das scharlachrote Siegel“) nun also das russische Fach – lange, lange Jahre in Chemnitz nicht mehr dargeboten, wie Michael Güttler feststellte. Der Dirigent versteht was vom russischen Fach. Er ist ständiger Gastdirigent am Mariinsky-Theater in St. Petersburg, wo er übrigens gleich am Dienstag „Die Frau ohne Schatten“ (Strauss) dirigieren wird, ehe er am 3. Dezember bei der nächsten Aufführung von „Pique dame“ wieder in Chemnitz am Pult steht.

Güttler – ja, er ist der Sohn des Trompeters, obwohl das kaum wo steht, er ist selber groß – spricht fließend Russisch. In St. Petersburg steht er vor allem für das deutsche Fach, besonders Wagner. (Vom 7. bis 11. Dezember wird er dort den kompletten „Ring“ dirigieren). Aber ein Dirigent, der nicht russisch „fühlte“, würde in Petersburg nie daheim sein. Die Chemnitzer „Pique dame“ profitiert von Güttlers tiefer Kenntnis. Es ist, als ob er die Atmosphäre aufgesogen hätte, die das Mariinsky ausstrahlt, in dem im Dezember 1880 „Pique dame“ uraufgeführt wurde.

Güttler und die Robert-Schumann-Philharmonie – das passt. Er macht aus dem Orchester, das erst vor wenigen Wochen mit seiner Italianità glänzte, fast ein „russisches“ Ensemble. In den Tiefen seidig (Celli, Kontrabässe, Hörner) und aufmüpfig (Fagotte, Klarinette) – pompös (Auftritt der Zarin) – gewaltig (Gewitter) – sanft (Schäferspiel) oder derb volksmusikhaft (Casino-Szene). Güttler lässt Jeletzky (Andreas Beinhauer) bei seiner innigen Liebesballade nicht in tränenreichem Sentiment ertrinken, er lässt einfach zart und wahr spielen, er bringt den italienischen Verdi-Schwung (Ballszene) und die mozartschen Leichtigkeiten (erstes Treffen von Hermann und Lisa) – obwohl, am Rande bemerkt, das Klavier sehr laut tönte. Hätte es da nicht bühnengerecht ein Cembalo oder ein Virginal auch getan?

Vom Orchster ging die Tschaikowsky-Faszination aus, der sich das Publikum nicht entziehen konnte, und die diese Aufführung treibt. Im gleichen Atemzug zu nennen die Chöre  (Opernchor, Einstudierung Stefan Bilz, Kinder- und Jugendchor/ Pietro Numico). Von der ersten Sekunde an die Atmosphäre bestimmend (Kinderspiel, Kaserne) bis zur hymnischen Totenklage am Schluss. Und das alles auf Russisch (Sprachcoaching: Svetlana Katchour)! Was für eine gewaltige Leistung (zumindest die Chemnitzer Kinder und Jugendlichen haben/hatten in der Schule kein Russisch mehr wir ihre Eltern). Da war jeder Wackler zu Beginn schnell verziehen.

„Perfekt“ in seiner Muttersprache der St. Petersburger Viktor Antipenko als Hermann, der gefeierte Star des Abends. Sie habe jedes Wort verstanden, freute sich eine Dame, die aus Weißrussland stammt. Antipenko nahm jede Hürde der schwierigen Partie nahezu mühelos – er strahlte, liebte, wütete mit seinem großen, beweglichen Tenor, bettete ihn behutsam in das Orchester ein, wo angebracht, und erhob ihn darüber, als ob er Schwingen hätte. „Das war international“, lobte der glückliche Generalintendant Christoph Dittrich. Wir freuen uns, Antipenko demnächst auch als Parsifal in Chemnitz zu hören.

Beeindruckend die Damen – zuvorderst Gräfin Tiina Penttinen als Grande dame und geheimnisvolle Geisterhand des Schicksals, nicht nur stimmlich ein Genuss. Maraike Schröter sang Lisa, die Zerrissene, die Frau zwischen zwei Männern und dem Mann und dem Spiel fabelhaft – mit ihrem schönen Sopran immer auf der Höhe der Situation. Sie ist die Reagierende, sie darf nicht, sie kann nicht, sie will aus vollem Herzen. Maraike Schröder kann das alles in ihren schönen Sopran hineinlegen. Entzückend Franziska Krötenheerdt und Alexandra Sherman mit ihrer tiefen Stimme, die wir zum ersten Mal in Chemnitz hörten. Gern wieder. Und mit ihnen Matthias Winter (Slatogor). Als Tomsky hatte er vorher die Ballade vom Geheimnis der drei Karten gesungen, großartig. Andreas Beinhauer, ein wunderschöner und schön singender Jeletzky gefiel uns nicht nur in seiner großen Liebeserklärung – eine der schönsten Stellen der ganzen Oper. Sein verzweifelter Sieg am Schluss – er hätte lieber Pech im Spiel gehabt. Groß. Riemer, Piontek, Ander, Walawski – die Menschen, die Menschen bleiben dürfen und nicht einem Wahn verfallen – wir mögen sie.

Hermann Feuchter und Henrike Bromber haben den Liebes- und Spielwahn, der in der Tragödie endet, die trotz Pistole kein rotes Bühnen-Blut braucht, ganz in schwarz/weiß gepackt. Die Bühne, zusammengesetzt manchmal aus Andeutungen, dann aus großen Irr-saal bildenden Rechtecken, hoch- und reingefahrenen Podien (schön, dass die tolle Chemnitzer Bühnentechnik wieder mal nicht als Luxus im Keller verborgen blieb). Die drei Kulissenkarten – Hintergrund im Vordergrund. Die Kostüme – alle Pikschwarz und weiß. Herrliche Gewitterszene, mit dem weißen Schirmballett.  (Dass das Aufspannen ewig dauerte, – Himmel, wenn ein Gewitter droht, kriegt jeder seinen Schirm blitzartig auf -, dass die Mäntel langwierig unelegant in die andere Farbe gefuddelt werden mussten, dass zu viel mit Pistolen herumgefuchtelt wurde, das steht auf einer Anderen Blatt.  Nur die Wendemäntel mit einem Grün (grün, weil im deutschen Skat Pik „Grün“ ist?) schaffen mit dem bemerkenswert stimmigen Lichteinsatz (Holger Reinke) andere Akzente. Wer weiß, wo er hingehört, trägt schwarz oder weiß. Die Unüberlegten dürfen as usual tragen. Aber wer in den Wahn des Unerreichbaren irrt, in die Geheimniswelt, trägt pseudo-erdverbundenes Braun – wie Hermann und schließlich (mit dessen Mantel) auch Lisa, als auch sie alles verloren hat.

In dieses Schwarz und Weiß bettet Regisseurin Helen Malkowsky ihre Geschichte der Pique dame. Schon während der Ouvertüre weist sie die Richtung: Hermann bedroht die schwarze Geheimnisvolle mit der Pistole. Pique dame – sie steuert bei Malkowsky das Geschehen, sie ist der Übergeist hinter dem Fenster, sie führt die Waffenhand, als Hermann nicht mehr weiterkann und sich umbringt. Späte Rache für den, dem sie selbst – weil wie vorausgesagt er der Dritte war, der das Geheimnis der drei Gewinnkarten erfuhr, zum Opfer gefallen war. Beeindruckende Bilder – er todbringend über ihr, sie tödlich über ihm. Für Malkowsky bestimmt die Geheimnisvolle das Geschehen, Hermann liebt überschwänglich, zuerst Lisa, dann das Kartenspiel. Er muss keine innere Entwicklung durchmachen – wir kriegen kaum mit, dass er das Geld haben will, um die Geliebte aus dem anderen Stand zu gewinnen. Lisa wird vom Platz genommen, verschwindet hinter den Kulissen, sie darf sich nicht aus enttäuschter Liebe in die Newa stürzen. Und Hermann verliert schließlich sein Leben mit und durch Pique dame. Lisa scheint aus dem Sinn. Hermanns Tod, nicht, weil er nicht die Liebe zur Geliebten über die Liebe zu den Karten gestellt hat, oder Vergeltung der „Schwarzen“, die sich als Herrin selbst über den Tod erweist? Pique dame, die Schicksalsgöttin? Die alles Bestimmende? Die Oper heißt so, gewiss. Aber sind das nicht ein paar zu wenig Noten, die Tschaikowsky der Titelfigur in die Kehle geschrieben hat? Aus der Musik hören wir viel mehr Liebe, Leidenschaft, Kampf. Gefühle, Menschliches, Allzumenschliches. Puschkin. Hermann. Lisa.

Die drei Glückskarten sind die 3, die 7 und das As. Auch Tschaikowsky spielte: die – so sagte er mal – Beste seiner Opern, das Ass seines Bühnenschaffens, hat drei Akte mit sieben Bildern. Die Chemnitzer Oper hat nach „Turandot“ in dieser Spielzeit nun schon das zweite Ass gezogen – ausgerechnet mit der Pikdame. Guter Trumpf.

(bearbeitet 30.11.)