Zum Dahinschmelzen. (Die Gletscher nicht)

Timothy Chooi hatte den Auftritt in Chemnitz beim Joseph-Joachim-Wettbewerb in Hannover gewonnen – die Robert-Schumann-Philharmonie ist eines der Orchester, mit denen der Gewinner auftreten darf. Schön nicht nur für ihn, gut auch für Chemnitz.

Chooi, jung und unbeschwert, geht das Bruch-Konzert an, als höre er in sein eigenes Inneres hinein oder suche die blaue Blume. Ganz leise fängt er an, hört auf jeden Ton, lässt viele leichte Glissandi kullern – und bricht dann mit den Doppel- und Mehrfachgriffen aus sich heraus. Jeder große Geiger, jede herausragende Geigerin spielt dieses Konzert, das zur Vierfaltigkeit der berühmtesten deutschen Violinkonzerte zählt (neben Bruch: Beethoven, Brahms, Mendelssohn). Es ist ein Konzert, in dem so viele Emotionen stecken, in dem sich Lebenserfahrung spiegelt, dass jede Aufnahme jedes Solisten anders klingt. Da verzichtet sogar Garret auf Mätzchen und Joshua Bell dirigiert sich selbst.

Chooi ist (noch?) ein Romantiker: jeden Ton kostet er auf dessen Gefühlswert aus, schaut, dass er auf der tiefen G-Saite auch oben volltönend klingt, und dass er ganz oben auf der E-Saite noch Klänge schafft, die hell, aber nicht schrill klingen. Er hat ein wunderbares Instrument: ob er die Stradivari („Windsor“ von 1717) spielte, die ihm der „Kanadische Rat für die Künste“ leihweise zur Verfügung gestellt hat, oder die Guadagnini (die Leihgabe für den Preisträger in Hannover – brauche er nicht wirklich, er habe ja seine Stradivari, vertraute der der Neuen Presse an), wurde nicht verraten. Wie auch immer – ein tolles Instrument, das sich auch gegenüber dem großen Orchester durchsetzen kann.

Dabei klingt manches ungewohnt: die kraftvollen Mehrfachgriff-Abstriche, bei denen es mancher Virtuose unten krachen, bisweilen sogar kratzen lässt, geht er leise an, um Siegjubel in der Höhe zu schaffen. Da sind die anderen schon leise geworden und nehmen den schmucken Fortgang der Melodien vornweg. Auch Vibrato setzt der junge Sentimentale großzügig ein – selbst bei dem Bach-Andante, das er als Zugabe spielte. Wissenschaftliche Puristen von heute würden ihm die gelbe Karte dafür zeigen – das Publikum liebt diese einfache Gebärde, Schönes nicht zu hinterfragen, sondern einfach schön klingen und die Herzen rühren zu lassen. Beifall, der gar nicht enden wollte.

Tobias Melle hat die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss im Kopf, wie er sagt. Drei Jahre lang ist er durch die Berchtesgadener Alpenwelt gewandert, hat gezeltet, die Foto- und Video-Linse auf alles draufgehalten, was in ihm drin Gleichklang zwischen Strauss und dem, was er sah, herzustellen schien. Diese Bilder, teilweise überblendet oder in Video-Sequenzen, formulieren optisch die 22 Bilder der riesigen Alpen-Partitur von Richard Strauss. Sie sollen, sagt Melle, die Musik nicht illustrieren, sondern helfen, sie besser zu verstehen und intensiver zu erleben.

Das mag für den einen oder anderen tatsächlich diesen Effekt bringen – wir wagen nicht zu schätzen, wie viele Besucher weniger der Musik als wegen der Bilder und deren Verbindung zur Musik gekommen sind. Die Stadthalle war, im Gegensatz zu anderen Sinfoniekonzerten, zweimal rammelvoll… Andere wollen sich ihre eigene Fantasiewelt, die aus der Straussschen Musik im Kopf entsteht, nicht durch fremde Bilder verfärben lassen. Ist ja auch schwierig, solch gigantische Klänge mit Bildern zu unterlegen. Welche Töne passen zu den riesigen Ohrmarken der Kühe auf der Großleinwand? Gab’s zu Straussens Zeiten schon festgetackerte Ordnungszeichen? Und so wenig Menschen, die Sonnenaufgang oder Gewitter erleben?

Im Dunkeln fingen Pauken und Bläser an. Nur der Dirigent steht in der Nacht ein bisschen im Licht. Aber kein Mensch tappte im Dunkeln in diesem ereignisreichen Tag in den Alpen. Vor lauter Bildschirmbildern konnten wir die Musiker nicht so richtig verfolgen – bei der fast einstündigen Schwerstarbeit. Auch nicht das Heckelphon, ein Mittelding zwischen Oboe und Alphorn, von dem es weltweit vielleicht 120 Stück gibt – und eins davon in Chemnitz (Solofagottist Norman Kuhnert geht darauf fremd…sein ursprüngliches Imstrument hat ja auch keinen „Liebesfuß“). Die Strauss-Besetzung (er wünscht sich optimal 129 Musiker!) kann die Robert-Schumann-Philharmonie nicht auf die Bühne bringen – aber mit den mehr als 2o Aushilfen waren es schon mehr als 110… – die größte Sinfonie-Besetzung in dieser Spielzeit auf der Bühne.

Größe sagt noch nichts aus über Qualität – und in den Alpen erlebt jeder nicht nur große Panoramen, sondern auch den ganz individuellen Schweiß beim Auf- und schmerzende Knie beim Abstieg. Und letztlich ist jeder dabei für sich allein- und muss im Zweifel über seine Grenzen hinausgehen. Und das taten sie. Flöte, Oboe, Englischhorn, die Trompeten, die vielen Hörner, Posaunen, die zwei Tuben, die Celesta, die Orgel, die Harfen, die Schlagzeuger mit Wind – und Donnermaschine – und Kuhglocken! García Calvo schaute nicht auf die Bilder – er hatte reichlich zu tun, den riesigen Apparat so zum Klingen zu bringen, wie er es wollte. Da liebt ein Spanier die Alpen – zumindest so, wie Strauss sie musikalisch schildert. Calvo holt mit der linke Hand Bergsteigerschwünge heraus, mit dem ganzen Körper lässt er Donner und Blitze zucken und krachen. Grandios, wie er Atmosphäre schafft – die Stille vor dem Sturm, oder wie er das Sirren in der Luft in den hohen Geigen noch intensiver herauskitzelt, oder das drohliche Dröhnen der Orgelpedalregister mischt mit der Vielfalt der anderen Klänge in der Natur. Ganz starke Leistung vom Dirigenten und den Musikern der Robert-Schumann-Philharmonie mit ihren Gästen. Verdient herzlicher, langer Beifall auch für Tobias Melle.