Keine Verunsicherung über die Leistung der Schauspieler und des Regieteams um Stephan Beer nach diesen „Dramatischen Anrissen einer allgemeinen Verunsicherung in 29 Szenen“ (Untertitel). Sie machten das eigentlich unaufführbare Stück zu einem eindrücklichen Erlebnis. Die Jury, erfahren wir, war hingerissen von der Sprachgewalt Garos. Von den Bilderblitzen und Gedankendonnern, von den Worteskapaden und Sprachkaskaden, von Rausch und Qual abrupter Stimmen- und Stimmungswechsel. Ein Stück zwischen Geniestreich und Wahnsinnstat – so gar nicht alltäglich, oder doch: alltäglicher Wahnsinn, so gar nicht Theater im gelernten Sinn, so fremd in unserem Rezipientenkopf. Preiswürdig. Aber aufführbar? Das gehört dazu. Der Chemnitzer Theaterpreis ist keine Phantasienummer. Das Stück muss auf die Bühne. Geht, sagte Stephan Beer. Geht sogar gut. Wird überraschend. Da fiel die Entscheidung einstimmig.
Nach der Uraufführung am Freitag wissen wir: zu Recht. Das Stück, das kein Stück ist, sondern eine gespielte Collage ist nicht erzählbar, so wenig wie Bildfetzen. Stellen Sie sich vor, Ihr Gegenüber sagt bei der Zeitungslektüre am Frühstückstisch: alles wird immer schlimmer. Was ist alles? Le Pen, die Grabscher an der Zenti, Blondtollen-Trump, der Streit um Veganer“wurst“, Mutti Merkel, die Flüchtlinge, die Klimakatastrophe, bairischer Staatskanzleiwahn, Demos hier, Gegendemos dort. Und die Politiker politisieren, die Theater dramatisieren, die Polizei kriegt Prügel und teilt aus. Welt kaputt? Und wir? Nicht Welt? Bin ich, wie ich bin? Oder wer ich bin? Krieg ich Beulen durch die Gesellschaft um mich herum, oder sie die Krätze durch mich? Kann ich die Realität wechseln wie ein T-Shirt? Oder stellt sie mich unter eine Bewusstseinserkenntnisdusche?
Stephan Beer versucht gar nicht erst, Handlungsstränge zu sammeln, wo keine sind. Er lässt Spieler Schau spielen, macht sie mit Masken hässlich, weil wir hässlich sind, wenn wir nicht sind, wie wir gesehen werden wollen. Das Hamsterrad des Alltags wird zum Ganzkörperballon mit tödlicher Rauchervernichtungsdüse, im Video sprechen teufelmenschliche Augen. Die Nationalhymne vermollt. „Ich will an Deutschland ran“ rappen die Akteure, „jetzt, jetzt“. Und sehnen sich kitschig nach dem Süden. Die Bühne ist eine Wand, die sich bis zum Schwindel dreht. In natura und im Kopf der hautnah sitzenden Publikums-„Schläfer“.
Ulrike Euen (ob sie bei der Jury-Sitzung geahnt hat, was auf sie zukommen würde?), Maria Schubert, Magda Decker und Konstantin Weber nehmen die bizarre Spielsituation an quasi wie eine fröhlichernste Rührkuchenvinaigrette, tanzen täppisch wie bekloppt, flüstern suggestiv, lassen Gesichtsmuskeln entgleisen und Augen Schlunde werden, sie zoffen und kichern – und sie sprechen wie junge Götter Texte, die teuflisch sind. Komplizierteste, fremdwörtergespickte Wortrasereien im Chor – so präzise, dass einem fast die Ohren abfallen, weil man das nicht für möglich hält.
Eine Stunde rappelvoll mit Action, physisch und mental ein Marathon. Tausend und noch mehr als eine Idee, wie Verunsicherung sicher auf die Bühne zu bringen ist, von Stephan Beer. Georg Burger sorgt für das sparsame absurd bizarre Bühnenbild und die Verunstaltungskostüme – Beulen für Knoten im Gehirn und nicht wahrgenommene Fremdviren: großartig. Steffan Claußner grelliert die eh schon übermächtigen Bilder mit noch schrägeren Notenfetzen.
Tagesschauthemen-verdichtete Bilder von verunsichernden Ängsten einer Welt, die kaputt scheint. Und wir mittendrin. Wie im Theater. Was ist Realität, was Schein? Wo ist die Lösung? Es gibt keine, sagt Azan Garo. Kann sein, dass wir gar keine wollen.
Irritierend, bizarr, verrückt. Mit großartigen Schauspielern. Eine absurde Stunde. Beer und das ganze Team haben Garos Collage preiswürdig gemacht. Die Jury hat ein Experiment gewagt. Es ist gelungen.
Die Jury, die das Stück im Dezember 2016 auswählte: Harald Müller, Verlagsleiter von „Theater der Zeit“, Johannes Schulze, Vorsitzender des Theaterfördervereins und vormaliger Geschäftsführer der „Freien Presse“, Stephan Beer, freiberuflicher Regisseur, Ulrike Euen, Schauspielerin, und René Schmidt, Dramaturg am Schauspiel Chemnitz.
Auch für die Spielzeit 2017/18 ist wieder der Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik ausgeschrieben. Diesmal mit einem vorgegebenen aktuellen Thema: Europa. Nicht nur wegen Brexit und Le Pen, sondern auch, weil Chemnitz auf dem Weg zur europäischen Kulturhauptstadt ist.
Die nächsten Vorstellungen von InnerOuterCity: 7. Und 26. Mai, 3. Juni 2017
Aus der Vorschau