Wie der tumbe Tor durch Liebe das Fürchten lernt

Zum Märchen gehören eindrucksvolle Bilder. Also schleppt Siegried einen Riesenbären (gefertigt von Christiane Kleiber, Anke Wachter-Lehn in den Theaterwerkstätten) auf die Bühne, dem Mime das Herz rausschneidet, wie er – in einem szenischen Vorspiel – den kleinen Siegfried aus dem Bauch seiner Mutter geschnitten hat (Erfindung von Hartmannshenn – aber im Märchen soll man ja nicht alles hinterfragen, auch nicht, wie die von Mime gekillte Sieglinde ihrem „Mörder“ noch den Namen des Kindes geflüstert und ausgerechnet ihn mit dem Kümmern um den Sohn beauftragt hat). Das Waldvögelein darf da natürlich auch nicht von der Seitenbühne irgendwo ganz oben trällern, sondern als leibhaftiges Fabelwesen (wie die drei Knaben in der Zauberflöte) den irrenden und verirrten Siegried an die Hand nehmen. Waldvögelchen legt sich (vergeblich) auch mit Wotanwanderer an. Stirbt. Und wird pompös zur Bestattung hinausgetragen. War lieb und notwendig. Braucht Siegfried jetzt aber nicht mehr. Die Stimme der Natur sagt ihm nichts mehr. Er ist jetzt selber groß.

Hartmannshenn ist verliebt in ihr Märchen, das weder Zeit noch Ort kenne. Aber bös bleibt bös im Märchen, auch wenn’s eins für Erwachsene ist.  Und so schnappt sich Alberich, der einst der Liebe abschwur für die Macht des Ringes, jetzt, da er den Ring nicht hat behalten können, ein Mädchen und vergewaltigt es.

Hartmannshenn legt sich einen ganz eigenen Wagner zurecht. Bedenkenswert in vielem – Macht des Ringes, Macht der Natur. Der Schatz, das sind die geknechteten Menschen, die durch Heiland Siegfried befreit werden (sollen) und prompt am Schluss auch auftauchen aus der Nibeltiefe ins grelle Licht der Liebe zwischen Brünnhilde und Siegfried, die schließlich zur Götterdämmerung (und der Selbstbestimmtheit der Menschen?) führen wird.

Hartmannshenn gelingen beeindruckende Bilder – etwa wenn der Naturbursch, der in seinen kurzen Hosen ohne zu zögern Mime ermordet hat, plötzlich menschliche Züge bekommt, und – wie eine männliche Pietà – die Hand des Toten an sein Herz legt und für einen Moment trauert um den, der ihm bisher das Leben geschenkt hat. Aber dann wieder stehen die Sänger in der Säulenhalle (können, wenn nötig, auch Bäume sein) weit voneinander weg, singen über die Rampe, was der Textverständlichkeit durchaus dient, aber auch komisch wirkt, wenn hellsichtig Siegfried die schlafende Brünnhilde von ganz vorn beschreibt, obwohl der die Stehende noch gar nicht angesehen hat. Warum Mime erst gefesselt, paar Minuten später entfesselt wird (erster Akt), oder warum Mime eine Art Spinnennetz in seiner fiktiven Höhle knüpft, das dann ruckzuck unter Wotans Eintritt zusammenfällt, bleibt der Regisseurin Geheimnis. Ebenso, warum das so entscheidende Schwert ewig rumliegt wie bestellt und nicht abgeholt, und Siegfried den Wanderstab Wotans mit bloßen Fäusten zerlegt.

Was sie mit ihrem Bühnenbilder Lukas Kretschmer (schreibt gerade in Weimar seine Dissertation „Ästhetik der Inszenierung sepulkraler Narrative im öffentlichen Raum“ – hat wohl gewirkt…) schafft, ist Atmosphäre. Bedrückende meist, aber berührende. Das befördern auch die Kostüme von Susana Mendoza, passend zu den Mimen, wenn auch nicht unbedingt auf Figur geschnitten (Siegfried).

Dass diese Aufführung im Rahmen des neuen Chemnitzer „Rings“ einen ganz hohen Stellenwert bei den Wagner-Verbänden aus aller Welt bekommen wird, ist der musikalischen Seite in erster Linie zu verdanken.

Felix Bender (er dirigiert noch die nächste Aufführung, dann übernimmt GMD García Calvo) bleibt sich treu, und er tut gut daran. So glasklar und im Detail arbeiten nur wenige Dirigenten die wohl mehr als zwei Dutzend Motive heraus (mit teilweise einigermaßen skurrilen Namen: Grübelmotiv, Machtdünkelmotiv, Waberlohemotiv). Ihnen nachzuhören, macht große Freude – und die Musik spannend. Jede Minute. Sie erzählt bisweilen mehr, als die Augen sehen.

Die Robert-Schumann-Philharmonie folgt Bender aufs „Wort“, und er spricht mit Taktstock und linker Hand deren viele. Holt subtil kleinste Effekte heraus (hohe Kunst etwa bei Siegfrieds Flöte basteln und -ausprobieren mit dem Englischhorn, oder kurze dynamische Veränderungen bei Tuba, Hörnern und Wagner-Tuben), dämpft, wo die Sänger übertönt werden könnten, und holt doch auch großartige Tutti-Fortissimi heraus. Er kann sich aber auch auf „sein“ Orchester verlassen, das GMD García Calvo schon jetzt als ein ganz hervorragendes Wagner-Orchester lobt.  Nach fast vier Stunden Anstrengung kommt etwa die höchst schwierige, weil total offen liegende Pianissimo-Stelle des Erda-Motivs von den hohen Streichern so sauber und locker aus dem Graben, dass wir nur staunen können.

Daniel Kirch singt in Chemnitz den Siegfried zum ersten Mal. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Und das nicht, weil wir ihn auch in der „Götterdämmerung“ hören dürfen. Was hat er für eine schöne runde Stimme, die jeden Ton formt, und nirgendwo, weder nach unten, noch nach oben ausfransen lässt, herrlich modulierend, ob er den Drachen auf die musikalischen Hörner nimmt („Eine zierliche Fresse zeigst du mir da, lachende Zähne im Leckermaul!“) oder Mime verspottet. Stimmgewalt über die ganzen fast vier Stunden weg. Es gibt nicht viele Tenöre, die zum lichtglänzenden Schluss-Duett noch derart überzeugend in Form sind, dass sie nicht nur ihren Part beherrschen, sondern auch auf jede Nuance im Part der (noch ganz frischen) Partnerin eingehen können.

Diese Partnerin ist Christiane Kohl. (Nebenbei: gibt es eigentlich eine Verwandtschaftsbezeichnung für Brünnhilde und Siegfried? Siegfried ist Wotans Enkel, Brünnhilde Wotans Tochter. Sie ist aber weder seine Mutter, noch seine Tante…). Christiane Kohl ist eine Ideal-Besetzung im „Siegfried“, wo Brünnhilde ja nicht die wilde Walküre ist, sondern die aufgeschreckte, dann sentimental Liebende.

Zurecht große Begeisterung und aufbrausenden Beifall für Ralf Lukas als Wanderer/Wotan. Wunderbarer, herrschender und beherrschter Bass. Immer präsent. Die bösen Brüder Mime (Arnold Bezuyen) und Alberich (Bjørn Waag) und ihr nur durch Siegfried bezwingbarer Widersacher Fafner (Avtandil Kaspeli) passten sich perfekt, auch stimmlich, ihren Rollen an. Wobei einem Mime und Fafner fast schon leid tun konnten, als sie – tot – minutenlang auf dem harten Bühnenboden liegen bleiben mussten. Aber warum soll es ihnen besser gehen als etwa der Erdmutter Erda. Hartmannshenn wollte, dass Simone Schröder reinkommt, sich auf den Boden legt, und im Liegen zu singen anhebt. Erst recht: was für eine gewaltige Stimme! Für das quirlige Talent von Guibee Yang ist die Hartmannshennsche Auffassung des Waldvögeleins ideal. Guibee Yang ist ja auch eine perfekte Schauspielerin, neben all ihren Qualitäten als Sängerin. Und so zwitscherte sie, von Felix Benders angezogenem Tempo beflügelt, noch vogelhafter ihre wunderschöne Melodie mit den gewagten, aber wie gewohnt perfekten Sprüngen.

Vier Frauen machen den „Ring“ und sollen uns die weibliche Sicht auf Wagners Mammutwerk zeigen. Was das ist? Schwierig, schwierig… „Ich mach‘ den „Ring“ als Mensch, nicht als „Frau““, hatte Hartmannshenn damals bei der Vorstellung der Regiekonzepte vor mehr als einem Jahr gesagt. Die Frage nach der „weiblichen Sicht“ bleibt auch nach „Siegfried“ offen…

Die nächsten Vorstellngen: 20. Oktober, 10. November 2018