Wenn Harry Potter auf der Titanic mit den Walküren reitet

Lassen wir Nacherzählungen im Deutsch-Unterricht. Picken wir raus, was uns besonders gefallen hat:

Immer was los. Felix Bender, 1. Kapellmeister, und am Abend Chef im Ring, und Christoph Dittrich, Generalintendant, und am Abend kundiger Moderator, hatten ein Programm zusammengestellt, das jede Sekunde spannend war. Grippewelle in Chemnitz? Kaum ein Huster, auch nicht bei den leisesten Stellen. Gebanntes Publikum. Bombastischer Applaus auf bombastische Musik (Monty Norman, 007-Bond-Medley) und rührende Sekundenstille nach John Williams‘ „Schindlers Liste“. Bender hat seine 90 Kollegen im Griff, lockt raus, was klingt – hauchend leise oder krachend laut. Dittrich spielt gekonnt auf dem Seelenklavier. „Wenn Goldfinger kommt, dann sehe ich sofort vor meinem geistigen Auge Gert Fröbe“, kündigt er an. Und als Goldfinger dann wirklich erklingt, denkt niemand im Saal nicht an Gert Fröbe. Gekonnt. Harry Potter: Manche mögen ihn nicht, gesteht Dittrich zu. Und lockt Haryx Ponder alias Felix Bender zum Geständnis, er habe als junger Thomaner – weil mit Film-Harry verwechselt – schon mal in Fernost Programmhefte mit Harry Potter signiert. Beifall für das Schmankerl. Und dann gleich wieder höchste Konzentration auf die Musik. An dem Abend stimmt alles.

Opern ohne Worte. Das stammt von Korngold (Chemnitzer Liebling dieser Spielzeit. Wir erleben „Die tote Stadt“ und haben schon das Violinkonzert gehört). „Mein Ziel war stets, für den Film eine Musik zu schreiben, die seiner Handlung und Psychologie gerecht wird und die sich trotzdem – losgelöst vom Bild -. im Konzertsaal behaupten kann“, sagte er mal. Das hat er dann auch getan. Und viele nach ihm wie er. In Hollywood. Aber Korngold war nicht der erste. Er kannte seinen Wagner und seinen Richard Strauss. Vielen im Publikum, die die Filme aus dem ff kennen, aber kaum die Musik, fiel kaum ein Unterschied auf zwischen der Musik eines James Horner („Titanic“) und der eines Richard Wagner („Walkürenritt“), der 150 Jahre vorher geboren worden war, fünf Generationen früher (1803). Leit(motiv)vater Richard! Ohne Bilder gibt’s keinen Film, die Musik tritt in den Hintergrund. „Iconic turn“ (Hubert Burda): Bilder sagen uns heute mehr als Geschriebenes oder Gehörtes. Stimmt. Aber die Musik kann leben ohne Bilder, wie dieser Abend bewies. Und dass die Musik höchst modern, bisweilen vertrackt und schräg war, fiel kaum jemandem auf. Vorstellung: Die Werke wären angekündigt ohne Filmbezug. „Lass mich in Ruhe mit dem modernen Sch…“, hätte wohl so mancher gesagt, und der Saal wäre halb leer geblieben. Warum fürchten so viele Menschen zeitgenössische Musik, wenn sie davon begeistert sein können? Siehe dieses 6. Sinfoniekonzert.

Noch ein Sahnehäubchen. Die Philharmonie spielte in Bestform. Für die vielen „neuen“ Zuhörer gab’s unendlich viel zu erleben. Wo kommt gerade dieser Klang her? Kontrafagott und Piccoloflöte, Basstuba und Glockenspiel, die Hörner (ab Wagner sechs) und die Harfen, das Schlagwerk! Jens Gagelmann akrobatisch vor dem großen chinesischen Gong, Schlag nach hinten, dann wie der Gekreuzigte davor, um mit Felix Benders Akrobaten-Abschlag auch die Schwingungen des Riesendrums zum Schweigen zu bringen, die Trompeten, die Saxophone. Die Bratschen als Rhythmusinstrumente – ganz vorn. Unüblich. Aber die Filmkomponisten heute brauchen satte Geigenklänge. Also Erste und Zweite nebeneinander. Es hätten ruhig die fehlenden vier mehr sein können (haben wir wegen der Sparmaßnahmen schon zu wenig, oder hat die Grippe zugeschlagen?). Was sind schon ein paar Geigen gegen die geballte Schlagzeugmacht… Die Holzbläser, wunderbar. A propos: die Flöte. Im Film hätte Ulrike Rusetzky eine Hauptrolle gespielt (spielt sie auch hier…). In „Deception“, dem Film von Irving Rapper von 1946, für den Korngold sein berühmtes Cellokonzert schrieb, sorgt sie für den ersten Knall. Die Geschichte: Junge Frau hat ein Verhältnis mit einem Komponisten und Dirigenten. Heiratet einen Cellisten, der das neue Cellokonzert des Komponisten uraufführen soll. Den ärgert das. In der Probe gibt’s Zoff (wunderbarer Ausschnitt auf YouTube). Flöte trilliert unmögliches Stück, Cellist spielt (angeblich) falsch. Dirigent klopft ab. Solange, bis der Cellist hinwirft. Und seine Frau ihren Geliebten erschießt (zweiter Knall). Ulrike Rusetzky und Thomas Bruder – da gab’s kein Missverständnis. Thomas Bruder war für mich – bei aller Macht und Gewalt und Schönheit der Musik sonst – der Star des Abends. Was Korngold ihm da an irrwitzigen Sprüngen auf die Saiten geschrieben hat, um das Dreiecksverhältnis zu illustrieren, was er ihm an Schmachten im langsamen zweiten Teil in die Pferdehaare des Bogens gleiten lies, grandios. Dann aber der Gipfel: Im Film kommt gegen Schluss eine wahnsinnige Passage für den Solisten. Rauf in schnellem Lauf, Doppelgriffe zum Akzent. So steht das aber gar nicht in Korngolds Noten… Hat er bei der Bearbeitung für die Bühne weggelassen. Aber Bruder spielt’s als Sahnehäubchen. Hatte keiner mehr so im Ohr. Aber er macht’s. Toll. So sind unsere Philharmoniker. Haben Spaß daran, dem Publikum Freude zu machen. Sie können auch Mahler und Bruckner und Eötvös und Ligeti. Aber deswegen geben sie sich bei „Filmmusik“, bei (mal ehrlich, bisweilen echten) Klangschinken keine Blöße. Spielen wie junge Götter. Und gut. Hartmut Schill, mehrfach Solist, lässt schon bei der Romanze in Schostakowitschs „Gadfly“-Suite aufhorchen. Aber dann spielt er (zusammen mit Matthias Worm) das Thema aus „Schindlers Liste“. Wunderbar im Ton, schwierigere Fingersätze in höheren Lagen, wenn’s auf den unteren Saiten besser klingt. Lässt alle Schluchzer à la Rieu weg. Spielt einfach das Moll, das John Williams so berührend geschrieben hat: Sternstunde. Genauso übrigens wie die Präzision der drei (!) Klarinetten bei Schostakowitschs Stechmücken-Volksfest. Andere lassen da nur einen ran, damit nur ja nichts daneben geht… Die Robert-Schumann-Philharmoniker lassen kein Sahnehäubchen aus, um zu zeigen, was sie können.

Zweimal ausverkaufte Stadthalle. Ein Intendant, der vor Spaß an der Freud (und, weil er Ahnung hat, nicht nur von Zahlen) nicht den Chef raushängt, ein Dirigent, der mehr ist als Kapellmeister, der Klangmassen bändigt und verquere Rhythmen in hörbare Strukturen wandelt, eine Robert-Schumann-Philharmonie, die glänzt, quer durch. Und ein Publikum, das mitgeht, von der ersten bis zur letzten Sekunde. Und sich auch nicht von Zwischenbeifall abhalten lässt…

Großer Abend. Theater und Philharmonie haben viele Freunde neu gewonnen. Zahlt sich ja vielleicht doppelt aus. Den Chemnitzer „Ring“ kennt jeder, sagte Dittrich. Die Musik zum „Herrn der Ringe“ (Howard Shore) erklang zum (ersten) Abschluss – mit (Beethoven lässt grüßen) Gesang zur Krönung (Maxi Müller und Runa Sandmann alternierten). „Aber wir haben noch viel mehr Ringe“, kam schmunzelnd der auch für Zahlen verantwortliche Intendant durch, „zum Beispiel Abo-Ringe“. Sein Wort in Publikums Ohr…