Weihnachts -?, nein: Entdeckerland

Alle Garagen voll an der Stadthalle – Hochbetrieb auf dem Weihnachtsmarkt ein paar Meter weiter. Kein Weihnachtsbaum auf der Stadthallenbühne, dafür frische, lebendige Blumen (wie immer vom generösen Gartenfachmarkt Richter), nur in die Dankessträuße für die Solisten mischte sich mit einer Glanzkugel ein Hauch vom kommenden Fest. Das würde ein Abend der anderen Art werden. Wurde es.

Irgendwann im Lauf der Jahrhunderte verkümmerte das „s“ im französischen „maistre“ zu einem Accent circonflex. Aus dem Meister wurde der „maître“. Schon vorher müssen die Vorfahren von Xavier de Maistre, der in Toulon auf die Welt kam, geahnt haben, dass da im 21. Jahrhundert ein wahrer Meister die Konzertbesucher in der Welt begeistern würde. Und wenn nicht, auch nicht schlimm. Maître Maistre spielt meisterhaft.

Das zeigte er schon bei den beiden ins kalte Programmeröffnungswasser geschmissenen Tänzen (Danses sacrée und profane) von Claude Debussy. Sonst steht zu Beginn eines Konzertprogramms eine Ouvertüre oder eine kleine Mozart- oder Haydn-Sinfonie zum Einspielen. Mit Maistre kann man es sich leisten, gleich medias in res zu gehen. Harfe pur. Glissandi und Arpeggien: Für Maistre anscheinend das Selbstverständlichste der Harfenwelt. Glasklare Kristalltöne: Maistre lässt sie aufblitzen. Verhauchte Akkordläufe in der Höhe: Maistre spielt nicht nur technisch brillant, sondern auch musikalisch aufmerksam und klug.

Dem Franzosen Debussy folgte einer, dessen Namen französisch klingt, der aber in Kiew geboren ist, und dessen Vater aus Klingenthal im Vogtland stammt (wo übrigens heute keine Harfen mehr gebaut werden. Aber Alexander Riedel, der Konzertharfenbaumeister in Schwarzenberg, zählt sich zum „Musikwinkel“). Herr Glière hieß im 19. Jahrhundert als junger Mann Рейнгольд Морицевич Глиэр. Mit Punkt Wende zum 20. Jahrhundert nannte er sich um in Reinhold Moritzewitsch Glière. Man wollte modern sein…

Der Mann hat später „etliche Orden und Auszeichnungen“ bekommen, wie es im Programmheft heißt. Nachgegangen: Dreimal den Leninorden, dreimal den Stalinpreis. Und den Orden des Roten Banners der Arbeit obendrein. So einer im Weihnachtskonzert 2014 in Chemnitz? Ja, und Gott sei Dank!

Glière war kein Revolutionär wie Schostakowitsch, weder politisch, noch musikalisch. Aber immerhin hat sein Schüler Prokofjew bei ihm gelernt, wie man effektvoll Noten schreibt. Und das kann Glière. Sein Harfenkonzert ist Musik zum Reinlegen. Rrrrussische Melodien, gleich zum Mitsummen, Synkopen, die grooven, Läufe, die nicht aufhören sollen… Gott, was entfachten Maistre und die Robert-Schumann-Philharmonie aus diesem spätromantischen Harmoniesüchtling für einen Klangzauber! Maistre hat eine wunderbar klingende Harfe mit einem perfekten Resonanzkörper. Er hat irisierend tanzende Finger über den Saiten und flinke Füße an den Pedalen. Er kann orgelprächtig reingreifen ins Saitenleben und herzschmerzverhauchen in einem letzten leisen Plim…

Das Orchester ordnete sich perfekt dem Harfenweltmeister unter. Die waren alle begeistert von ihrem Solisten. Schon als er reinkam, „klatschten“ sie mit Bögen und Paukenschlegeln Beifall: das ist ein Orden für einen fremden Solisten. Am Ende legte Konzertmeister Schill sogar den Bogen zur Seite und klatschte mit dem begeisterten Publikum laaaang mit. Das ist dann schon ein Stern zum Orden. Ein verdienter, höchst angemessener. Dann die Zugabe. Keine Ahnung, was das war. Egal. Da klingt die Harfe bisweilen fast wie ein Balalaika-Orchester, singt Volksmelodien und lässt die volle Pracht dieses an sich leisen Instruments volltönend klingen, dass jeder Winkel der Stadthalle von Musik erfüllt ist. Großartig dieser Meister Maistre, einfach begeisternd.

Ziemlich mutig der Übergang vom Vogtlandukrainer zum Russen Strawinsky. Der hat viele Ersthörer seiner Werke verschreckt, weil er so modern war. Über „Pulcinella“ regten sich dann die französischen Musikmodernisten-Beckmesser auf. Viel zu traditionell, brummten sie. Aber Strawinsky wusste, was er tat, als er auf Pergolesi & Co. (alle schon rund 200 Jahre tot damals) zurückgriff. Diese „einfachen“ Meldodien und Schrittfolgen, aufgemischt durch – hoppla – Rhythmuspirouetten – das war genau das Richtige für ein Ballett im Stil der volkstümlichen Komödien in Neapel, bisschen Comedia del’Arte, bisschen Schäferlyrik. Kasperltheater auch ein bisschen: Pulcinella ist eigentlich ein Kasper, der die Köpfe der Mädchen verzaubert.

Die Robert-Schumann-Philharmonie zauberte auf ihren Instrumenten. Klein besetzt, fast alle Musiker auch als Solisten (und oho! ordentlich) gefordert. Streich-Duo bis –Quintett, das Blech, das Holz – dazu das Rhythmus-Fußvolk (Verzeihung, ihr wunderbaren Musiker! Strawinsky war kein Demokrat) – perfekt. Und über und vor allen: Howard Arman. Mit kleinen, sparsamen Gesten auch bei den vertracktesten Verschiebungen und Einsätzen. Den ganzen Abend über übrigens. Es gibt Dirigenten, die müssen nicht ausholen, um zu zeigen, dass sie da sind. Sie haben den Klang im Griff. Arman ist so einer. Ein Kluger.
Gesang zum Ballett: Hat er klug eingefädelt, der Herr Strawinsky. So setzt man in der Reihe von 15 Stücken Höhepunkte wir die größeren Perlen in einem Rosenkranz. Und das Publikum sperrt trotz banalhirtenlyrischen textlichen Liebtreuergüssen Augen und Ohren auf, wenn Kouta Räsänen „dalla profondita“, aus der Tiefe ansetzt, und sein „morirò“ dramatikuliert, dass einem sich vor dem Todeshauch die Nackenhaare stellen. Dan Karlström, der Tenor, war kurzfristig eingesprungen. Wir haben ihn schon als Piet vom Fass in „Le grand macabre“ gehört. Der Tenor spricht die Wahrheit („disse la verità“), meint Strahlemann. Und Strawinsky treibt ihn in die Höhen (Gut gemacht, Dan Karlström). Und lässt Frau Sopran in der Stimmführung drunter. Aber sie beherrscht die Szenerie (und die Männer) auch so. Notfalls mit einem kurzen Ausflug in die eigentliche Stimmlage…

Gubee Yang hat die Rolle drauf, sang fast durchweg auswendig. Wenige Minuten nach dem „intelektuellen“ Strawinsky und einer verdienten Stärkung bei Karl’s volkstümlichen Erzgebirgsgerichten nebenan postete die kleine Koreanerin auf Facebook: „Es war sehr schön.“

Stimmt.

Und auch draußen hatte das Weihnachtsgedudel aufgehört.