Fantastisch, was für eine Fantasiewelt Bluescreen-Technik schaffen kann. Die Bühne ist in der Höhe horizontal quergeteilt. Unten reitet vor bläulichem Hintergrund der Kreuzritter den Holzbock. Oben jagt derselbe Ritter im Film auf dem Pferd durch die Wüste – alles, was auf der realen Bühne bläulich ist, wird ausgestanzt und live vor den vorbereiteten Video-Hintergrund gespielt. Und so tanzen Schwerter wie von allein durch die Luft, dem/der einen fehlen die Beine, dem anderen der Kopf. Und Argante, der König von Jerusalem, boarded in bester Skate- oder Snow-Manier auf seinem Teppich hoch durch die Gassen seiner Noch-Sarazenenstadt.
Van Rensburg ist verliebt in die digitale Technik des Bluescreens. Und er und die Techniker im Chemnitzer Opernhaus beherrschen sie mittlerweile nahezu perfekt. Geübt hat Rensburg schon mal vor einem Jahr in Krefeld mit Rossinis „Barbier“. Dort ritt sein Almaviva (Levy Sekgapane, der übrigens in Chemnitz in jener berühmten „Cenerentola“ und im „Parsifal“ seine Weltkarriere startete) den Holzbock, während er gleichzeitig im Video lässig einen amerikanischen Straßenkreuzer steuerte wie hier der Ritter sein Pferd durch die Dünen jagte.
Nun ist bei Rossini auf der Bühne immer viel los. Bei Händel weniger. Viel Arbeit also für Rensburg bei der Gestaltung der Videos. Was eine Sau-Arbeit ist. Und klar. So wie Händel bei sich selbst klaute (war damals üblich), und wie hier das berühmte Largo aus der Oper „Xerxes“ als Hit vor dem Pausenvorhang eingezaubert wurde, so schuf auch Rensburg Schleifen. Das ist mitunter amüsant. Aber wenn die Qualle zum gefühlt zehnten Mal in der Blubberblase wieder aufsteigt und die Arie immer noch nicht fertig ist, dann kann sie noch so sehr quallen, da kann dann auch schon mal blubb, blubb, weg war sie, die Aufmerksamkeit leicht schläfrig werden.
Aber es gab meist tolle Bilder. Die Stadt, die Lager. Die Sirenen im Meer. Die freche Liebesszene („stoß zu, ich will dich als Sieger sehen“). Und unten, sparsam, das harte Podest, der Dominagürtelschwung. Kleiner Gag, wie so viele sonst. Van Rensburg und sein Team haben mit viel Spaß an der Freud‘ gearbeitet, trotz aller Schufterei. Das sieht und liest man. Da gibt’s auch schon mal einen übersetzten Übertitel-„Blödmann“, und „Scheisse“ wird kurz und bündig heutiggeflucht.
Diese verfluchte Didi-Technik verlangt allerdings, dass sich die Darsteller immer auf einer sehr eng begrenzten Fläche bewegen müssen, dass das blaublinde Kamera-Auge sie auch scharf anvisieren und ausdrucksstarke Bilder liefern kann. Was wiederum bedeutet, dass Bewegungen sehr ökonomisch, dafür illustrierend oder gar witzig choreografiert werden müssen. Da hat Sabrina Sadowska die erfahrene Hand sehr perfekt malend im Spiel gehabt.
Normalerweise sieht Operngänger die Sänger ja aus einiger Distanz. Das Problem bei großleinwandigen Visagen (kennen wir aus TV-Übertragungen, wenn den Regisseuren und Kameraleuten der Finger juckt und sie unbedingt auf den weitaufgerissenen Sängermund zoomen müssen. Haben Sie schon mal den Zahnarzt, der neben Ihnen sitzt, dazu gefragt?) verlangt auch, dass die Sängerinnen und Sänger extrem gute Schauspieler sind und ihre Gesichtsmuskeln und -nerven genauso im Griff haben, wie die Stimmbänder in Form und den Dirigenten im Blick. Da hat Rensburg mit dem Ensemble auch unverschämtes Glück. Eine für alle: Guibee Yang… Da kriegt die Zauberin Armida mit, dass Argante ein liebestrügerischer Sauhund ist, den sie am liebsten sofort in die Hölle oder ihr Zauberreich unter Wasser schicken würde. Der singt und singt der Falschen um zarten Nacken und schönen Busen, und in ihrem Gesicht ist eine ganz andere Geschichte nachzulesen wie in einem Buch. Herrlich.
Ja, schauspielerisch müssen die Sänger top sein bei einer solchen Digital-Realität. Das sind sie (nicht nur nebenbei: Kompliment an die Maskenbildnerinnen. Herrlich, wie sie aus Anna Harvey einen Gottfried von Bouillon, hier Goffredo genannt, gemacht haben, der wie Eisenbart höchstderoselbst daher kam). Die Zuschauer sollen ja in wunderbaren (oder schrecklichen) Bildern ersaufen. Ging uns auch so. Aber wir sind ja nicht bei YouTube oder im Tagesthemen-Studio. Oper! Was geben die Ohren für eine Rückmeldung?
Das ist die andere Seite, warum dieser Chemnitzer „Rinaldo“ in Erinnerung bleiben und die Leute aus nah und woher auch immer weiterhin begeistern wird. Traumhafte Musik. Bleiben wir bei Rinaldo. Mit Yuriy Mynenko hat man einen Countertenor verpflichtet, für den Händel aus dem Graben (den’s damals noch nicht gab) gesprungen wäre, für den er all seine noch so guten Farinelli-Vorgänger-Kastraten (Farinelli war bei der Uraufführung von „Rinaldo“ übrigens gerade sechs. Gefährliches Alter für musikalisch hochtalentierte Jungen zur damaligen Zeit…) zum Teufel geschickt hätte. Mynenko kann parlieren, figurieren und volltönen, in Countertenor-Höhen und -Tiefen. Am Rande: Auch die Rolle des Eustazio war mit einem Counter-Tenor besetzt, mit Jud Perry. Wenn schon, dann schon. Angenehm. Man muss ja nicht alles in die Neuzeit übersetzen, was Händel sich damals vorgestellt hat. Die hohen Ensembles klingen ja auch überraschend gut, wenn so gut gesungen wie am Samstag (Finale!).
A propos hoch: Jedes Opernhaus muss heute Gäste einladen. Aber Chemnitz kann sich glücklich schätzen über Damen wie Guibee Yang (Armida) und Franziska Krötenheerdt (Almirena). Guibee Yang, die auch stimmlich Feuer speien kann, wie die verliebte Almirena die Stimme mit Sehnsucht füllen kann, dass Honig fließt. Und der einzige „Mann“ (zumindest von der Stimme her), Andreas Beinhauer, steht seinen Kolleginnen in nichts nach. Erstaunlich, wie alle drei auch im Barockfach zuhause sind. Wie sie die manchmal abenteuerlichen Figuren in ihre Stimmbänder basteln. Dabei müssen sie noch – bei aller Schauspielerei – immer auch auf den oder die Begleitfreunde aus dem Graben hören. Und die unten auf sie.
Da hat Vermittler Bender Schwerstarbeit zu leisten. Der kommissarische GMD Felix Bender liefert mit der Robert-Schumann-Philharmonie einen baroque & roll-igen Händel ab, der – darf man das sagen? – auch heute noch abrockt. Bender erweist sich dabei nicht nur als – so kennen wir ihn noch gar nicht richtig – Barock-Spezialisten (gut, einmal Thomaner, immer Bach&Co. im Blut!), sondern auch als herrlich einfühlenden Graben-Dienstleister für die da oben auf der Bühne. Gerade wenn’s so auf Präzision ankommt wie bei van Rensburgs Digi-Regie. Genial etwa die Schreckpause, die den Rittern oben im Boot den Atem nimmt, als sie den Hai entdecken. Dann darf das musikalische Meer wieder Wellen schlagen… Zwischendurch greift Bender, der vom Cembalo aus das Orchester leitet, selbst in die Tasten. Nicht nur bei Rezitativen. Sein Kakadensolo, das einem schön beim Hören den Schweiß auf die Stirn treibt, bringt verdienten, spontanen Beifall bei offener Bühne für den Maestro!
Die Robert-Schumann-Philharmonie jagt nicht Altinstrumentschimären nach. Sie spielt ohne Vibrato, kann komponierte Motiv-Blöcke steigern oder reduzieren ohne in gewohnte Mannheim- oder Romantik-Dynamik zu verfallen. Sie kann expressiv Sturm entfachen, aber auch Stille spielen, was mindestens so schwer ist. Und sie hat hervorragende Einzelkönner in ihren Reihen, die dem Chef nicht nachstehen wollen, wenn sie Soli haben (Geige, Flöten – herrlich das Trio mit der Bratsche, Fagott). Schön, dass bei aller Digital-Freude die analoge Freude an den Blockflöten erhalten blieb, vor allem, dass die ganz, ganz kleine die Vögel piepsen durfte. Die Theorben, die Lauten, die Pauken und Trommeln – wunderbare Klänge. Sie passten zu dem modern gemachten, alten Märchen aus dem Mittelalter, mit seinen farbenprächtigen Kostümen (Kristofer Kempf) wie aus Tausendundeiner Nacht.
Das Märchen, Sein und Schein und Zauber und Wirklichkeit, alles fließt ineinander, van Rensburg hat eine riesige Freude am Spielen. Und immer ist ein Augenzwinkern dabei. Auch Händel und sein Haymarket-Opernchef wollten, dass das Publikum seinen Spaß habe und wiederkäme. Die bisweilen ganz nett frech und salopp daherkommenden Zwischentitel erzählen nichts davon, dass die Liebe mal wieder gesiegt hat und stärker war als alle Zauberei (das haben wir ja gehört…), sondern münden n den Schluss-Titel „Baroque & Roll“. Und drunter steht – auch für alle Puristen („o Gott, so kann man doch einen Händel nicht machen, Sakrileg!“) – „Keep calm and Händel it“. Herrlich. Wie der ganze bejubelte Abend.
Die nächsten Aufführungen: 31. März, 9., 23. April, 4. Mai 2017