Vom Sinn der Sinnlosigkeit

Als Esche 1902/03 van de Velde beauftragte, ihm draußen, nicht auf dem hochmögenden Kassberg, eine ganz und gar nicht die übliche kaiserlich wilhelminische Prunkvilla zu bauen, hielten ihn viele, darunter alle braven Bürger, für bekloppt. Aber: Die Villa Esche gilt heute als erstes privates Bauwerk der Moderne. Der anderswo verachtete Munch schrie seine „Angst“ vor bürgerlicher Erstarrung zwischen 1906 und 1929 in sechs Ausstellungen in Chemnitz heraus. Und Schmidt-Rottluff, der Chemnitzer, wurde einer der Größten in jener Gruppe, die sich „Brücke“ nannte – Expressionisten wurden sie geschimpft, oberflächliche Ausdrücker ihrer individuellen Seelenzustände. Disziplinlose Gesellen, ästhetische Scharlatane.

„Europa hinkt“, heißt es einmal im Stück. O ja, das würden wir heute auch unterschreiben. Kurzzeitig hatte sich Anfang des 20. Jahrhunderts so etwas wie ein gemeinsamer Gedanke auf ein größeres Allgemeines breitgemacht. Ob in Rom oder Petersburg, Warschau oder Paris, oder München und Berlin – auch die Kunst tanzte hoffnungsvoll für einen neuen Sinn jenseits verstaubter patriotischer Enge. Maler, Dichter, Musiker und Architekten, alle ließen sich mitreißen. Und merkten nicht, dass sie auf dem Vulkan tanzten. 1914 brach er aus.

Die einen (wie Franz Marc) zogen begeistert ins Feld, hoffend auf einen Neuanfang. „Nachmittags, 16 Uhr, war er tot“, zieht Philipp Otto nüchtern Bilanz. Der wie ein stolzer britischer Weltreicher gekleidete Chronist hatte süffisant besserwisserisch aus Marcs Briefen zitiert. Später wedelte er als Menschophant mit seinem Rüssel zu  grauselnder Musik, während die Kollegen robbten und löwten. So scheinbar sinnlos wie Marcs „Reh im Walde“ blau war.

Gleich hier: Denken Sie nicht an eine Story, wenn Sie in dieses Stück gehen. Lassen Sie ihre Seele in tausend Stücke krachen, wie Else Lasker-Schüler zitiert wird. Lesen Sie aus den Momentaufnahmen, was Ihnen das Hirn eingibt, wenn die Augen vermitteln, was es gar nicht gibt. Sie werden Schuhe sehen, eulenspiegelig spitzengekringelte und breitzehig clowneske, verschmierte Lippen und weißgeschminkte Visagen, goldene Röckchen und verschwitztes Travestierobenrot. Sie werden mit Stahlhelmen und Gasmasken konfrontiert – sehen Sie, was sie wollen. Das Bild entsteht in Ihrem Kopf – wie bei jedem Kunstwerk. Aber den Gasmaskentotentanz (Eszter Manz-Kozár und Martin Esser) werden Sie nicht vergessen. Und nicht die „Revolutions-Hymne“, wenn die rote Fahne geschwenkt wird. Ausgerechnet auf die Melodie von „Stenka Rasin“…

Europa vor dem Ersticken, absurde Pietà: Eszter Manz-Kozár, Martin Esser

Man hält es im Kopf kaum aus, was Knödler und seinem Team alles eingefallen ist. Was für ein unteuer toller Aufwand an bezeichnenden Klamotten (Teresa Monfared, Bühne – danke übrigens für die hilfreichen Video-Texthinweise aus dem Bunker – und Kostüme), was für karikierende musikalische Tut- und Klimpereinfälle von Steffan Claußner (auch als Mitspieler klasse), was für Fläche und Intimität beherrschende Choreografien von Esther Manz-Kozár! Gucken, gucken, sehen, sehen, hören, hören, man will gar nicht aufgehört werden…

Die Akteure, spielend, singend, chorig und diseusig, sich zum Affen machend – die an Zahl bei weitem größte Aufführung im Ostflügel (zehn Schauspieler und Ronald Münch, der oben auf dem Gerüst die Moderne zu malen sucht – sieht man, je nach Sitz, erst hinterher. Macht nichts) lässt hautnah erleben, über welch individuell breites Spektrum an Denkvermögen, Kraft und Mimik die Chemnitzer SchauspielerInnen*) verfügen.

Mit der roten Fahne waren wir schon im Jahr 1917, das Knödler in den Titel seiner Collage gehievt hat. Damit war das Ende der alten Zeit eingeläutet. Die Deutschen griffen mit ihren U-Booten an, was auf den Weltmeeren schwamm, die Amerikaner traten in den Krieg ein. Als politische Kraft waren sie im alten Europa vorher nicht wahrgenommen worden. Jetzt änderten sie (fast) alles. Noch mehr am Sockel ihres eigenen Throns sägte die deutsche Monarchie, als sie Lenin die Reise im verschlossenen Zug von der Schweiz in die Revolution finanzierte. Kommunismus, Stalin, der Ost-West-Konflikt, der Zweite Weltkrieg. Zar weg, Deutscher Kaiser weg. Weimar und die folgenden tausend Jahre. In diesem Jahr 1917 wurden die Keime gelegt. Und fast alles deutet sich an bei Knödler. Selbst der damals geborene Populismus.

Nahezu hilflos flüchteten die Kreativen in vermeintliche Sinnlosigkeit, überwältigt von einem Zusammenbruch, der kein Neuanfang war. Dada in Zürich (Ball, Arp) stellte die Kunst selbst in Frage. Maler wie Klee und Kandinsky wandten sich weg vom Geschehen und abstrahierten – in Bild und Wort. Den Dichtern flogen die romantischen „Rosen aus dem Haar“ (Laske-Schüler). Carsten Knödler stellte aus Tagebucheintragungen, Pamphleten und Notizen der 17er Zeitgenossen subtil und in bestechender Auswahl seine Collage zusammen. Als Regisseur bebilderte er die Blitzlichtaufnahmen höchst präzise und fantasiereich – ernst bisweilen (Anfang), klamaukig (im Varietérund), sentimental (Schluss). Nur die Sinnlosigkeit kann noch die Welt darstellen, das, was Sinn hat, kann der Verstand nicht mehr erfassen. Aber bitte „Verschont mich vor Sinnlosigkeit“…

Mutig, das Experiment des Schauspieldirektors. Aber bestens geglückt. Lang anhaltender Beifall des beeindruckten Publikums, das viel Spaß am Sehen und Hören hat. Und beim Heimgehen das Hirn einschaltet. Und nachdenkt. Über Ende und Neuanfang. Und nachdenkt über die Stadt, seine Stadt, die modern sein will. Und doch so oft an alten Rastern klebt.

*) Die exzellenten SchauspielerInnen: Magda Decker, Eszter Manz-Kozár, Lauretta van de Merwe, Andrea Zwicky, Steffan Claußner, Martin Esser, Andreas Manz-Kozár, Philipp Otto, Philipp von Schön-Angerer, Martin Valdeig – und der Maler Ronald Münch.

Die nächsten Vorstellungen: 26., 30. November, 7.,22. Dezember