Fast wäre es so gekommen. Eine neue Suite sollte in Chemnitz uraufgeführt werden. Und an Weihnachten grübelte er immer noch vor leerem Notenpapier, berichtete ein verbal noch immer etwas geschaffter Truan. Was er da so erzählt, darf man nicht immer glauben. Kleine Schwindeleien sind erlaubt, wenn man das Publikum fangen will. „Nur für Euch. Haben wir gestern nicht gespielt“, kündigte er eine vierte Zugabe an. Auch am Mittwoch gab’s vier… *) Macht nichts.
Tatsächlich waren eine Menge garstiger Hindernisse vor dem neuerlichen Triumph in Chemnitz zu überwinden. Die zu spät notierten Noten für die neue „Spanische Suite“ kam erst am Freitag in Chemnitz an. Die für die Streicher sogar erst am Montag. Wie sollste da noch die verrückten Stellen, die mit einem Affenzahn gespielt werden sollen, üben? „Dieses fantastische“ Orchester, lobte Truan zwischendurch. Ja, ja, er weiß, dass er mit der Robert-Schumann-Philharmonie (fast) alles anstellen kann.
Die wuseln durch die schwierigsten Stellen, machen jede noch so schräge Klezmer-Melodie zum Hochgenuss, und improvisieren nach Noten, dass es ein Fest ist. Ob Oboe oder Tuba – was in seiner Band (schwyzerdütsch in Truan-Alemannisch heißt das nicht „Bänd“, da wird noch gesprochen wie geschrieben!) an Instrumenten fehlt, holt er sich einfach aus dem großen Warenkorb der Orchesterregale. Und so darf auch Konzertmeisterin Heidrun Sandmann auf ihrer Geige schluchzen, dass einem vor Rührung fast die Tränen kommen.
Den Tränen nah war Truan dann endgültig am Dienstag. Alles klang noch „schauderhaft“, gestand er. Und dann das: Dirigent Ilya Ram wurde käseweis, musste krank raus. Schluss, aus vorbei? Konzert schmeißen, 4.000 Menschen enttäuschen? Aber doch nicht in Chemnitz.
Da gibt es einen Kapellmeister, der in allen Genres daheim und ebenfalls für (fast) alles zu haben ist. Jakob Brenner (eigentlich voll beschäftigt mit der großen Schönheit – „La grande Bellezza“ -, die er morgen beim Opernball musikalisch zaubern soll) spielt auch den „Deus ex machina“, wenn’s denn sein muss. „Wow! Heute Abend springe ich super kurzfristig ein und dirigiere das Symphonic Klezmer Programm mit den genialen Musikern von Kolsimcha und der wunderbaren Robert-Schumann-Philharmonie!“, sein O-Ton auf Facebook
Kurzum: Brenner kommt, guckt in die Noten, sagt: „Schaut aus wie immer“ (Zitat Truan), hockt sich bis nachts um drei hin und studiert die Noten, macht am Morgen die Probe und dirigiert am Abend die bei aller Vertracktheit herrliche Uraufführung der spanischen Suite – in der alles drin ist, der Bolero, der Walzer, Flötentöne aus dem alten Nordafrika, die hinübergeklungen sind nach Sevilla, wo Truan sie aufgeschnappt hat.
Sie kamen, sahen und siegten, der Mann mit den blauen Sneakers aus der Schweiz und der junge IchhabvorgarnichtsAngst mit den roten Tretern aus Chemnitz. Kurze Abstimmung über die Tempi – und dann spielten sie mit ihren Kollegen und Kolleginnen wie die jungen Götter. Truan kann selbst einen Lada-Bruch bei Bruchsal auf der deutschen Autobahn („Autostrada“) so komponieren, dass man meint, man liege selbst unter der Klapperkiste und mache den Ölwechsel. Seine Klezmer, Jazz und Folklore geprägten Kompositionen jauchzen und sinnieren, ob wohl alles gut gehen wird („Wedding“), lassen uns den Wind aus der Negev-Wüste um die Birne und den verführerischen Kaffeeduft einer Jerusalemer Bar in die Nase wehen. Diese Musik ist – bei allem großartigen Handwerk – einfach eine „Stimme der Freude“. So heißt „Kolsimcha“ auf Deutsch.
Selten sahen wir soviel Freude auf den Gesichtern der Philharmoniker. Und wenn Konzertmeisterin Heidrun Sandmann im Beifall sich zum Publikum wendet und ein Lachen ihr Gesicht verwandelt, dann weht ein Freuden-Orkan durchs ganze Haus. Götterfunke.
Die sechs Kolsimchas sind musikalische Botschafter eines Optimismus, der die Welt verändern kann. Zumindest für die zweieinhalb Konzertstunden. Kein Mensch spricht darüber, was für ein Mist gleichzeitig drüben in Thüringen vor die Häuser der Demokraten gekippt wird. Wenn Michael Heitzler (mit ein Urgestein der Truppe) seiner Klarinette Töne (und Geräusche) entlockt, die es eigentlich gar nicht gibt, wenn Frauenliebling Simon Girard („Urkraft“ nennt Truan ihn) mit seiner Posaune improvisiert, dass man fürchtet, der Zugarm bräche ihm ab, wenn Avichai Ornoy seiner Flöte Sphärenflimmern entlockt und Christoph Staudenmann alle irdischen Naturgewalten in beherrschtem Rhythmus seiner Schlagwerkbatterie anfaucht – dann wächst auch Kontrabassist Veit Hübner (der einzige, der noch nicht in Chemnitz war. „Jetzt haben wir den Richtigen gefunden“ – so Truan) über sich hinaus und pizzikatet – mit elektronischer Hilfe – Orgelpfeifenbässe.
Alle guten Dinge sind 3. Zweimal haben Truan und seine Mannen zusammen mit der Robert-Schumann-Philharmonie die Chemnitzer schon begeistert – 2014 und 2017. Drei Jahre später wieder Jubel ohne Ende. Es müssen wirklich nicht erneut drei Jahre vergehen, ehe die Kolsimchas wieder nach Chemnitz kommen…
*) Oder gab’s am Mittwoch doch „nur“ drei Zugaben, wie einer eben per SMS mitgeteilt hat, der’s wissen muss, weil er selbst mitgespielt hat? Sei’s drum, dann haben die informierenden Mittwochsbesucher entweder selbst geschwindelt oder sich vor lauter Begeisterung verzählt. Macht auch nichts. Am Donnerstag waren es definitiv vier. Die Kolsimcha-Jungs sind und bleiben cool.