„Unglaublich“

Unglaublich 1. Die Musik. Kolsimcha und die Philharmonie spielten ausschließlich Stücke von Kolsimcha. Die meisten davon hat Olivier Truan komponiert. Und davon stammen wieder viele aus dem Ballett „Tewje“ für das Baseler Ballett (Uraufführung November 2015). Die Schallplatte wird demnächst veröffentlicht. In Chemnitz gab es sie jetzt schon. Clever! Die Leute stürmten den Stand zur Pause und nach dem Konzert. Truan zeigte sich vorgeblich überrascht davon, dass die Musik nicht nur aus dem Graben, sondern auch auf dem Podium funktionierte. Schlauberger! Der Mann weiß genau, wie man das Publikum fängt. In seiner Musik ist alles, was Spaß macht, was Balsam ist für die Ohren und Herzschmerz für empathische Seelen. Da hört man jiddische Hochzeitsklänge, gemischt mit Jazz und Swing, der expressive „Säbeltanz“ wirscht hinein, aber auch der impressive „Nachmittag eines Faunes“, „Kalinka“ schickt ein Motivküsschen und selbst Bolero-Ravel würde für die Instrumentation den Hut ziehen. Die Melodien saugen sich in den Gehörgängen fest, die Rhythmen in welchem Takt auch immer (2er, 3er, 4er und mehr) wollen die Kribbelfüße nicht in Ruhe lassen.

Unglaublich 2. Die Kolsimchas. Mittlerweile ändern sich die Gesichter, weil die einzelnen Jungs weltweit so viel zu tun haben, mit eigenen Bands und als Solisten. Von der 2014er Besatzung in Chemnitz sind die Urgesteine Truan, Heitzler und Staudenmann dabei. Olivier Truan streichelt und malträtiert sein Klavier wie eh und je. Improvisiert und diktiert den Rhythmus, klimpert und haut mit der ganzen seinen Hintern vom Stuhl hebenden Kraft in die Tasten. Michael Heitzler ist der Rabbi an der Klarinette. Er hat sein Instrument studiert, studiert, studiert. Er haucht und juxt, er jammert und frohlockt, er überbläst und wummert ganz tief drunten. Er zieht die Glissandi, wie sie Gershwin für seine „Rhapsodie in Blue“ von den Klezmorim gelernt hat, und er stößt die Töne spitz und schrill, dass kein Orchester der Welt ihn übertönen kann. Christoph Staudenmann ist der Ruhige an der Schießbude. Er hört genau zu, setzt die Schlegel, die Finger und die Besen ein, dass man Töne hört wie noch nie. Er dynamisiert vom leisesten Pianissimo zum explodierenden Fortissimo und macht aus den Becken ein Glockenspiel. Die „neuen“ Kolsimchas werden mitgerissen. Flötist Archivai Ornoy jagt brillant die Tonleitern vor sich her, lässt sich lerchengleich in die Höhe tragen und abstürzen ins tiefe Tal. Simon Girard spielt ein Instrument, das „umgekehrt proportional ist zu seinem Können“ (Truan). Die Posaune sieht wirklich aus wie Aschenputtel gegenüber den Hochglanz-Instrumenten seiner Philharmoniker-Kollegen. Der herrlich gispelige Girard weiß, was Truan von ihm erwartet: Die Posaune soll „ruhig blechern, laut und vorlaut klingen“, und „Klarinette und Posaune sollen sich ruhig ein bisschen beißen“ (Truan im Interview). Tun sie. Da können schon einmal ein paar Hertz die volle Oktave verfehlen. Wie interpretierte Truan bewundernd den Bassisten Thomas Lähms nach dessen Solo? „Da hat er ein brutales Bass-Solo hingebrettert“. Das kann er, ja – übrigens klasse elektronisch verstärkt wie alles an diesem Abend. Studiolike. Und doch klang alles „akustisch“. Die Kolsimchas – als Trio, Quartett oder Sextett, erst recht als Solisten: Weltklasse.

Unglaublich 3. Die Robert-Schumann-Philharmonie. Wenn die Posaunen schluchzen und Schill seiner Geige die einsamen Soli erstreichelt, wenn Truan die Musiker in rauschhafte Fahrt bringt und aufs Gas treten lässt, wenn sie den Teppich ausrollen für die Solisten oder donnerblechen, wenn selbst stuhlrückenverliebte Profis auf der Kante sitzen und alle lachen, wenn die Kontrabassisten Klatschanimateure werden, wenn trotzdem jede Temposteigerung und jedes musikalische Stotterbremsmanöver sitzt, dann ist Kolsimcha-Zeit. Hartmut Schill, lesen wir im Kolsimcha-Programmheft, geht nach Japan, um zu zeigen, wie man das „Rheingold“ findet, die Kollegen führen Tannhäuser auf die Wartburg, müssen Südseetulpen pflücken und dürfen morgen ballzaubern – alles gut. Aber was ist das gegen den Jubel einer übervollen Stadthalle für das eigene Tun. Wer wen mitreißt, egal. Kolsimcha und die Robert-Schumann-Philharmonie – wie die den kaputten Lada, der auf dem Weg von Rumänien in die Schweiz auf der A 5 „zwischen Bruchsal und Rastatt“ ausstottert, wieder auf Fahrt bringen („Autostrada“), musikalisch braucht’s da kein Klebeband…

Unglaublich 4. Felix Bender. Als die Kolsimchas letztes Mal da waren, trug Bender noch keinen Bart. War „kleiner“ junger Kapellmeister. Soll er mal dieses Ding machen, wird es wohl geheißen haben. Und wie der Kapellmeister das ungeliebte GMD-Kind damals schon schaukelte! Als Schwarzenegger der Dirigenten hat Truan ihn vor drei Jahren tituliert. Diesmal als musikalischen Einstein. Was auch immer er damit meinte – relativ war da wenig, es war eher genial, wie der nunmehrige (wenn auch nur kommissarische) Chef des Orchesters an der Kolsimcha-Sache seinen Spaß fand, wie er sie alle im Griff hatte, die Schweizer und seine Sachsen. Klezmer ist eigentlich keine Noten-, sondern eine Herzsache. Da läuft die Pumpe schon mal schneller beim ersten Hochzeitskuss, kommt fast ins Flimmern bei der Vertreibung aus dem Schtedl und wird ruhig beim Blick auf die himmlische Stadt Jerusalem. Als wären sie miteinander verwachsen, die Kolsimchas und die Robert-Schumann-Philharmonie – der groß gewordene junge Mann im Frack hatte alle im Griff. Und gab auch ohne Ton den Ton an.

Unglaublich, die letzte. Ausschnitte aus dem Konzert wird’s auf YouTube geben. Die Kolsimchas wissen, mit wem sie punkten können. – Neben dem Parkett waren Zusatzstühle hingestellt, es sollte jeder einen Platz finden, ohne andere zu stören, auch wenn er zu spät käme. Wann gab’s das schon mal? – Dafür zog mit den extra schönen Blumen(sträußen) der Frühling ein ins freudig gestimmte Haus. Der „fiel“ Truan, schon auf seine Zugabe fokussiert, etwas heftig aus der Hand, was der Entertainer genauso locker überspielte, wie seinen „Alfred“ Einstein. Der durfte schnell wieder „Albert“ werden, nur Lorin (Maazel) muss damit leben, dass er (seit dem Programmheft in Chemnitz) Zorin heißt. Zornig wird er deswegen bestimmt nicht.

Zwei Abende. Fast 4.000 Menschen. Sie gehen nachts hinaus in die winterliche Kälte, schlittern auf schlecht geräumten, glatten Wegen. Aber alle lächeln. Was Musik nicht alles fertigbringt. Unglaublich.