Zumindest in der Oper blieb’s trocken. Dafür musste zum Sterben ein anderer Tristan ran, weil dem ersten die Stimme erstorben war. Dreimal trat – diesmal als Regisseur – Michael Heinicke vor den Vorhang des vollbesetzten Hauses. Zu Beginn: „Die gute Nachricht: Wir sind im Trockenen. Und der Tristan kann über die Bühne gehen. Aber: John Treleaven, der Tristan, ist indisponiert. Am Donnerstag hatte er eine Stimme wie König Marke (Tristan ist Tenor, Marke eine Bassstimme). Aber er singt!“. Beifall vom Publikum.
Das zweite Mal vor dem dritten Akt: „Nichts geht mehr. Treleavens Stimme ist weg. Aber wir haben vorsichtshalber den Retter in der Not eingeflogen: Ivaar Gilhuus“. Noch mehr Beifall vom Publikum.
Das dritte Mal nach Schluss der Oper: „…“. Nix. Kein Wort. Aber alle verstanden, was gemeint war: Es ist nochmal alles gut gegangen. Ein Stein fiel Heinicke und viele plumpsten den zum Teil von weither angereisten Zuschauern von den Herzen. Tobender, tosender Beifall.
Nicht nur für den Regisseur, sondern als Dank für eine starke Aufführung zum Schluss der Chemnitzer Wagner-Tage. Mindestens so stark wie der Parsifal am Samstag, eher noch einen Tick besser.
Die Erfolgsfaktoren:
Ganz vorn (es wird durch die Wiederholung nicht falsch): Frank Beermann und die Robert-Schumann-Philharmonie. Auch wenn sie bisweilen vor lauter Spielfreude über das von Menschenstimmen zu überschreiende Wagner-Fortissimo hinausgingen (selbst die nicht nur stimmgewaltige Isolde musste Tribut zollen), auch wenn – im Gegenzug – Beermanns linke Hand den Klangapparat zugunsten der entzündeten Treleaven-Stimmbänder zurückdrückte: es war eine Sternstunde des Orchesters. Des ganzen. Und einer wunderbaren Englisch-Horn-Solistin Claudia Schöne.
Der Tristan I: John Treleaven ist ein weltweit hoch geschätzter Wagner-Tenor. Er hat oft in Chemnitz gesungen. Auch mit zerkratzten Stimmbändern ließ er bisweilen aufblitzend erahnen, zu welch geschmeidig glänzenden Kantilenen er fähig ist. Auch wenn er – schon von der Körpersprache – müder und kranker wirkte, als es der liebeskranke Tristan sein muss. Ein bisschen Mitleid mag beim Beifall für ihn mitgeschwungen haben – aber vor allem Hochachtung für einen Mann, der sich (Profi durch und durch) dieser Irrsinns-Aufgabe stellt. (Der erste Tristan starb wenige Tage nach der Uraufführung. Das Werk sei unaufführbar, hieß es damals, es bringe sogar Sänger um).
Tristan II. Da stand einer zwei Akte lang in den Kulissen. Wusste nicht, geht’s jeden Moment los? Einsingen? Unmöglich. Nach dem zweiten Akt: Du musst ran. Kostüm überziehen. Nicht so schwierig. Tristan geht im weißen schlabbrigen Krankengewand zum Sterben. Blutige Binde um. Wie soll ich mich bewegen auf dieser großen Bühne? (Heinicke zu Publikum: „Der dritte Akt ist sowieso Wahnsinn. Ich hab‘ ihm gesagt: ‚Mach, was du willst'“). Und dann lag da der plötzlich glatzköpfige Tristan und ließ gleich mit den ersten Tönen das Drama hinter den Kulissen vergessen. Ivaar Gilhuus, der als Tristan nicht gerettet werden konnte, der aber den Chemnitzer Tristan gerettet hat, trat beim Schlussapplaus immer einen Schritt zurück hinter seinen Tristan I: Ich war doch nur im dritten Akt dabei. Du hast die beiden ersten gerissen! Sympathisch. Treleaven und Gilhuus umarmt, beifallumbrandet. Ein starkes Bild. Und Emotionen im Publikum, wie das Theater sie braucht.
Heinicke, der Regisseur: Das Programmheft (kostete 3,50 €. Im Internet bei Amazon ist es für 11,90 € zu kaufen!) im längst vergessenen hohen Format – mit 48 Seiten! heute unbezahlbar – erinnerte daran, dass die Inszenierung nicht aus den letzten Tagen ist. Stimmt, die Premiere war im Juni 2004. Aber die Regie hat nichts von ihrer Kraft verloren. Das ist – auch – dem Bühnenbild zu danken. Die Einbeziehung der „Villa Wahnfried“ in das Geschehen im fernen Irland und Kornwall – auf eine solche Idee muss man erst kommen. Aber sofort entstehen die Assoziationen: an Marke-Wagners Dreiecksliebesgeschichte (noch komplizierter, als die des Dramas): Wagners Tochter Isolde kam just zu dem Moment auf die Welt, als Wagners Freund Bülow in München die erste Orchester-Probe zur Wagner-Oper „Tristan und Isolde“ dirigierte. Die Mutter war nicht Minna, Wagners Frau, sondern Cosima, die Gattin des Herrn von Bülow… Sie herrschte später von der Villa Wahnfried aus… Heinicke hat ein gutes Händchen für Bühnenbildner. Hier war es der inzwischen verstorbene Reinhart Zimmermann. Und wir alle erinnern uns an den großartigen Wurf von Wolfgang Bellach für Heinickes „Ring“, den ersten sächsischen nach der Wende. Aber es sind nicht nur die Bühnenbilder. Wie der Verräter Melot von Kurwenal in Schach gehalten, wie er – wohlgemerkt: alles stummes Hintergrund-Spiel – von der verzweifelten Brangäne auf Distanz gebannt wird: das ist echt gute Personenregie.
Die Sänger: Ganz im Vordergrund oder (wie im Schlussbild) fast himmelhoch darüber Sabine Hogrefe als Isolde mit großer, voller, wunderbaren Stimme. Kein Wunder, dass sie schon in Bayreuth und der Met in New York gesungen hat… Dir Brangäne: Eine vor Vitalität auch stimmlich fast berstende Tuija Knihtilä (der jeder die Carmen abnimmt, für die sie oft gebucht wird). Ein dominanter, profunder James Moellenhoff als König Marke. Und einer, der sich an diesen Wagner-Tagen endgültig in die Herzen der Chemnitzer gesungen hat: Heiko Trinsinger, der getreue Kurwenal. Die eigenen Solisten nicht zu vergessen: Andreas Kindschuh, André Riemer und Jürgen Mutze.
Beifall über Beifall.
Fazit der Wagner-Tage: Festspielatmosphäre. Internationales Publikum. Deutsche von überall her. Viele aus der Stadt und der Region. Die Oper hat für Chemnitz neue Freunde gewonnen. Tolle Werbung für die Stadt. Das Orchester war bewundertes Pausengesprächsthema von vielen weitgereisten Wagner-Kennern. Die Chemnitzer Oper – mindestens auf Augenhöhe mit Dresden und Leipzig. Ungläubiges Kopfschütteln bei den Gästen, dass diesem Juwel Gefahr drohe. Glanzvoller Abschluss für Bernhard Helmich zum Ende seiner Chemnitzer Intendantenzeit. Respekt vor der großen Leistung aller Beteiligten. Und: ein großes Dankeschön.
Anmerkung 1: Ivaar Gilhuus hat schon mal eine Wagner-Aufführung in Chemnitz gerettet. Wie dramatisch das damals war, beschrieb „crossover“
Anmerkung 2: Vor lauter Nietzsche, Schopenhauer, Cosima von Bülow und Mathilde Wesendonck, und natürlich Gottfried von Straßburg, der um 1210 den bedeutendsten Versroman um Tristan und Isolde geschrieben hat, übersehen die Exegeten gern, dass Wagner eine wesentliche, vielleicht sogar die wesentliche Anregung zum Tristan von Julius Mosen (dem Plauener, dem Schöpfer der Südtirol Hymne: Zu Mantua, in Banden…) aufgenommen hat. Mosen hatte ein Gedicht geschrieben „König Mark und Isolde“. Wagner hat ihn 1842 kennen gelernt. Die Arbeiten am Tristan begannen 1854. Uraufführung war 1865.