Tasten oder Taktstock? Wer gewinnt?

Wer würde das Publikum gewinnen: Alexej Gorlatch, der Tastenstar, oder Peter Kuhn, einer der Nachfolge-Kandidaten für Frank Beermann, der nach der kommenden Spielzeit Chemnitz verlässt? Gleich vornweg: Gorlatch hat klar nach Punkten gesiegt. Aber Peter Kuhn hat seine Sache nicht schlecht gemacht.

Gorlatch war gesetzt. Kuhn sprang für Dirk Kaftan ein, den jungen Grazer Chefdirigenten, der „daheim“ in Graz zu tun hatte (geboren ist er in Marburg, aufgewachsen in der Eifel). Heute dirigiert er „Norma“, morgen „Tosca“. Die ganze Woche ist er heiß beschäftigt. Auch er ein Kandidat? Auf jeden Fall war für ihn ein viel mehr auf den Dirigenten zugeschnittenes Programm vorgesehen worden. Er sollte jene große, spannende 1. Sinfonie von Rachmaninow spielen, die Sinfonie, deren Uraufführung Glasunow leitete. Sie endete im Fiasko. Rachmaninows Witwe behauptete später, Glasunow sei bei der Aufführung betrunken gewesen…

Statt der kantigen, schwierigen Rachmaninow-Sinfonie kam Kuhn mit der glatt geschliffenen, prächtigen zum-Reinlegen-Musik von Glasunow. Kuhn ist ein mutiger Mann. Das weiß man, seit er einmal mitten in einer Schumann-Sinfonie unterbrach – und in die Stille hinein sagte: “So hört es sich an, wenn ein Orchester nicht spielt”. Das Publikum tobte – jetzt müssten die Remscheider Stadtoberen doch kapieren, dass sie das Orchester nicht erden könnten. Haben sie schließlich auch nicht. So gibt es bis heute die Bergischen Symphoniker (sie sind ein Zusammenschluss der Orchester von Remscheid und Solingen), deren Chef Peter Kuhn ist. Einen Vertrag bei seinem B-Orchester hat er bis 2017. Chemnitz wäre ein klarer Aufstieg.

Kuhn kommt bescheiden daher, ruhig, gelassen. Aber dann, wenn er den Taktstock hebt, bewegt er sich, als wolle er die ganze Welt aus den Angeln heben. Keine Sekunde bleibt er ruhig. Wenn die Trompeten schmettern, versucht er, ihnen noch mehr Glanz zu entlocken, wenn die Geigen kleine Pizzikato-Motive haben (die eher Kulisse für die Bläser schaffen, als dass man sie hören könnte) wurbelt er sie mit der linken Hand kreisend nach vorn, markiert Horneinsätze, wo die vier wissen, dass jetzt eh sauschwere Stellen kommen. Er hat offenbar effektiv geprobt: viele heikle Stellen sitzen (auch ein Tutti-Pizzikato als Satzschluss) – und das Orchester hält sich auch dezent zurück, wenn Claudia Schöne ihr traumhaftes Solo zu Beginn auf dem Englisch-Horn bläst. Aber dann fällt doch auf, dass vor aller Jubelpracht des hohen Holzes auch mal das Gegenmotiv in Fagotten und Klarinetten hätte besser hervortreten müssen, dass viele Effekte, aneinandergereiht, in der Tat Effekt machen, aber größere Bögen, die Kommendes ahnen lassen, verschwinden…

Das Programm war für einen, der zeigen will, dass er dirigieren kann, wirklich nicht optimal. Statt des heikel reizvollen Geniestreichs „Jeux de cartes“ von Igor Strawinsky, das ursprünglich vorgesehen war, hörten wir Haydns frühe Sinfonie „Der Philosoph“ – ein herrliches Stück Musik des heiteren Haydn, mit zwei Waldhörnern, die den grummelnden Philosophen spielten, zwei Englisch-Hörnern, die dem philosophierenden Griesgram ständig keck in die Suppe spuckten – herrlich! Nur: Ein solch klar strukturiertes Stück spielen Profis wie die von der Robert-Schumann-Philharmonie (und wie ihre Vorgänger in Haydns Kapelle) auch ohne Dirigenten. Aber Kuhn, nun schon mal da, dirigierte mit Inbrunst die kleine Schar Musiker, als hätte er die kompletten Glasunow-Tutti vor sich. Und trotzdem klangen die Anfangs-Staccati nicht spritzig erwartungsvoll, sondern seltsam gedämpft. Und das lag nicht daran, dass sie „con sordino“ (mit Dämpfer) gespielt worden.

In Chopins zweitem Klavierkonzert (eigentlich ist es das erste, wurde nur später gedruckt) hat der Dirigent nun fast gar nichts zu melden. Als der Pole Szope (später der Franzmann Chopin) das Konzert spielt, saß er mit dem Flügel allein oben auf der Bühne, das Orchester, das ab und an die Stimmung noch ein bisschen taschentuchfördernder macht für die vor romantischem Schmelz schwitzenden Augen, war samt Dirigent in den Graben verbannt…

Alexej Gorlatch hat das Konzert drauf wie alle großen Pianisten. Er hat es, trotz seiner erst 27 Jahre, überall in der Welt gespielt. Traumhaft, wie sich die Finger über die Tasten bewegen, gefühlt schneller, als man die Noten überhaupt lesen kann. Hämmernd ganz oben oder ganz unten, wenn nötig und gewollt, ausplimplimmend, wenn Romantikseufz angesagt ist. Chopin schickt den Solisten gar nicht erst in den Wettkampf mit dem Orchester, er lässt ihn brillieren von einer Höchstschwierigkeit zur anderen. Und das bei einer Tonart (f-moll) mit 4 b, wo also vier von fünf schwarzen Tasten ständig verlangt werden. Alexej Gorlatch wählte denn auch ausgerechnet die Weißtastenetude (C-dur) für seine Zugabe. Das beifalltosende Publikum und das begeisterte Orchester verlangten zurecht nach einer zweiten Zugabe. Und in dem leisen Präludium zeigte der Solist noch einmal, wie musikantisch er gestaltet, in Klängen, wo Streicher Sehnsuchtsvibrato schluchzen würden, nicht nur in rasenden Tonperlenketten wie beim Klavierkonzert.

Hartmut Schill (am Donnerstag) und Thomas Bruder (am Mittwoch) hatten sich unter das Publikum gemischt, zwei wichtige Mitglieder der Robert-Schumann-Philharmonie. Was sie auf ihre Zettel notiert haben, wissen wir nicht. Ob Peter Kuhn weiter auf der Liste bleibt, ob er nochmal eingeladen wird, auch nicht. Wir sind gespannt…

Klarer Punktsieg beim Publikum für den sympathischen Pianisten, der heute Vormittag sein Können auch vor den Schülern einer fünften Klasse zeigt. Hut ab. Der junge Mann hat Format. Den würden wir gern wieder mal hören.