Struwwels. Wir alle

Himmel, wann haben wir eine so tollfröhliche Ensembleleistung gesehen? Alle spielen Schau, auch die Musiker, alle singen, falsche Töne jucken nicht, Falsetts für den Suppenkasper, der wie ein Falstaff daherkommt, die Schauspieler wagen sich an Banjo, Gitarre und Blockflöte. Der Suppenkasper popot ein Kippelstuhlballett und singt wie in Ring of fire, die Damen duettieren sich, gefühlte hundert verschiedene Kostüme für die einzelnen Episoden, Tausende von Gags, weil der Regisseur jedes Wort ernstfröhlich in Bewegung und Slapstick umsetzt, der weiße Pädagogengequatsche-Engel schwebt vom Himmel in die irdische Biederfamilien-Rumpelkammer, sie totentanzen, b..sen und poltern, Rotpumps und Bigfoots überstehen Rauch, Gezisch und Feuer, da lässt sich wer die Birne schwarzmalern, Robert viedeot sich beschirmt wie Mary Poppins in den Himmel, sie sterben feuchtfröhlich zum Lied vom Tod, nachdem ihnen das Blut bänderweise aus den Eingeweiden quollte, sie musicaln wie die Weltmeister und sprechen ihren Struwwelpeter-Hoffmann, wie wir ihn seit Muttermilchtagen aufgesaugt haben. Manchmal weißt Du nicht, wo Du zuerst hinschauen sollst auf dieser morbidaufwändigen Friedhofsszenerie-Bühne, Du ziehst die Knie ein, wenn sie durch die Reihe tanzen und den Kopf, wenn der Risesenhinkelsteinbaseballschläger ummäht, wer als nächster dran ist oder zufällig dumm in der Nähe harrt.

Ja, natürlich hat dieses Musical einen ernsten Hintergrund. Und ja, Kadavergehorsam führte schon mehrfach Jungvolk mit Fahne ins Verderben. Und ja, jeder kehre vor der eigenen Tür. Stimmt alles. Spült sich auch alles auf der Bühne ab, Lessingsches Furcht und Entsetzen und Mitleid entladen sich in irren Lacheruptionen – und wer’s nicht mitfühlt, wird’s nie erjagen: wir sind alle Struwwels. Am selben Abend wird in ganz anderem Zusammenhang auf Facebook der BGB-Paragraf 1619 zitiert, der heute noch gilt: „Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört … verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.“ Und wir Muttis und Vatis blicken stumm… Wir haben ja die Weisheit gefressen. Und wer nicht ist wie wir, den bombardieren wir, wie die Amis gestern in Syrien. Rebellen sind Kinder, die gehorchen lernen müssen. Waffenstillstand? Waffengleichheit?

Die „Tiger Lillys“ haben ein verrücktes Musical geschrieben – alles auf den Kopf gestellt. Die „Junk-Oper“ blickt herrlich makaber auf eine Welt, die Kabarett ist. Im besten Fall…

Schauspieldirektor Carsten Knödler lässt keine Beklopptheit aus, lässt den belehrenden Zeigefinger hinter Krallennägeln und Biedermeierbenimm unter Struwwelperücken verschwinden oder entlarvt sie glatzisch. Stefan Morgenstern hat eine schüttelmakabre Bühne und saukomischtreffende Kostüme geschneidert, Steffan Claußner bluest moritatisch das Lied vom Tod der Pädagogenetikette.

Und die Schauspieler – eine eingeschworene Truppe, die ihren Spaß an diesem Zerrspiegel-Märchen hat. Das Programm verzichtet auf Rollenbezeichnungen, wir werden den Teufel tun, oder den schwarzen Engel, beckmessernd aufzulisten, wer als was wann wie gewuselt hat. Marko Bullak, Magda Decker, Jan Gerrit Brüggemann (am Vorabend eingesprungen für den von Viren flach gelegten Michel Dierks), Ulrike Euen, Dominik Förtsch, Andreas Manz-Kozár, Philipp von Schön-Angerer und die Hutmenü servierende Pauline Schoenke (jedes Köpfchen braucht ein Deckelchen, und wenn’s nicht passt, machen wir’s passend…) – oben steht’s schon: „Himmel, wann haben wir eine so tollfröhliche Ensembleleistung gesehen?“

Mutig, mit diesem „Struwwelpeter“ die Spielzeit zu eröffnen. Kein Mut gehört dazu, vorauszusagen, dass diese Produktion ein Renner wird. Trotz Faust I und was sonst noch an Highlights angesagt ist. Wir sind alle Struwwels. Mehr wahrscheinlich als Faust und Mephistos.

*

Am Rande: Schauspiel ausverkauft, die Menschen happy. Oper (Flashdance) am selben Abend: fast ausverkauft. Die Menschen glücklich. Mehr als 1.000 Menschen, denen die Theater Chemnitz an diesem Abend Freude gemacht haben. Und die trotz Sch…wetter einen fröhlichen Sonntag erleben werden. Kann Theater mehr erreichen?

*

Die nächsten Aufführungen von „Struwwelpeter“: 17., 24., 28. September, 14. Oktober. Uneingeschränkte Empfehlung: Hingehen. Selbst Griesgram wird Fan…