Spitze im Dschungel

Lobo inszenierte und choreografierte die mehr als 100 Jahre alten und immer noch beliebten Geschichten von dem kleinen Jungen, der im Urwald ausgesetzt wird, unter Tieren aufwächst und schließlich wieder Mensch unter Menschen wird, als farbenprächtige, flotte Revue. Da ließen Bollywood grüßen, TV-Show-Glitzer und Comedy pur. Lebensfreude, Furcht und Flucht – auch das Leben im Tierreich ist kein Affenzirkus. Und doch: Gerade die zärtlichen, intimen Szenen rührten am meisten in dieser Parabel vom Leben in einem Staat, in dem Recht und Ordnung immer wieder in Gefahr sind, und nur Liebe Glück und Frieden schafft.

Hans Winkler hat einen veritablen Urwald auf die Bühne gezaubert, in dem es rauscht und zirpt und der (Video-)Wasserfall Überfeuchte zu sprühen scheint. Überhaupt: Herrliche Videos schufen Atmosphäre, be-bilderten im besten Sinn den ungastlichen Lebensraum im tiefen Dschungel. In dessen grüngruseliges Geäst eingebettete Einblendungen zeigten die Python, die Geier, den Tiger – perfekter Trick, zu zeigen, was gemeint ist, ohne dass Winkler die (Tier-)Kostüme hätte mehr als nur andeuten müssen. Wunderbare Kostüme allesamt, farbenprächtig, fantastisch, fantasievoll.

Auch Lobo beließ es bei Andeutungen. Da mussten nicht als Tiere verkleidete Menschen auf allen Vieren durch den Wald pirschen oder die Schlange sich am Boden winden. Aber die Rehe tanzten wie auf Schalen (wie kommen eigentlich Rehe in den Urwald, Herr Kipling?), die Wildkatzen schlichen, und der böse Tiger Shere Khan (Milan Maláč – tolle Körperbeherrschung) schien allzeit auf dem Sprung. Welche die schönsten waren? Wir haben um uns rumgefragt. Eindeutig die Antworten:  die Elefanten mit ihren schlenkernd wehrenden und liebkosenden Rüsseln.

Nur Baloo, der Lehr-Bär, durfte im Wortsinn aus der Rolle tanzen. Und das tat Emilijus Miliauskas denn auch mit wahrer gar nicht tapsiger Wonne bis in den Schlussapplaus hinein, ganz und gar auf alle Gemütlichkeit verzichtend, die seinen Film-Ahn (Walt-Disney 1967) weltberühmt gemacht haben. Auch das zeichnet Lobo aus: er schafft Charaktere mit ganz einfachen, aber kennzeichnenden Mitteln. Und die Tänzerinnen und Tänzer werden zu begnadeten Schauspielern: Jean-Blaise Druenne als schwarzer Panther Bagheera, Ivan Cheranev als Wolfvater Rama und Affenkönig, Yester Mulens García, der tanzend sprechende Erzähler und Chef der Elefantenpatrouille oder Nela Mrázová, die stolze Schlange und Natalia Krekou, das Mädchen, das Mowgli wieder ins Menschenleben wachküsst.

Einer sei hervorgehoben: Raul Arcangelo, das Menschenkind Mowgli unter den tierischen Feinden und Freunden. In seinem roten Lendenschurz immer präsent, teils hochakrobatisch, teils liebesbedürftig anlehnend. Höchst variabel lernt er von allen seinen tierischen Freunden, sich wie sie zu bewegen, scheint sie dabei manchmal geradezu parodistisch nachzuäffen, wie so mancher Schüler seinen Lehrer, und hat ganz offensichtlich seinen Spaß dabei. Das alles auch in den schwierigsten Figuren mit einer Leichtigkeit (und Schmerzunempfindlichkeit), als seien sie das Natürlichste der Welt.

Überhaupt: Das Chemnitzer Ballett schien wie ausgewechselt, nicht nur, weil Lobo sogar im Urwald auch auf Spitze tanzen lässt. Dabei sind die meisten Tänzerinnen und Tänzer schon lange in der Kompanie. Lobo bringt ganz neue Bewegungen hinein: sie zärteln sich über die Rücken, sie verschränken sich vielarmig und vielfüßig wie die indischen Chefgöttinnen Devi oder Durga mit ihrer unerschöpflichen Energie. In Ensembleszenen sticht Individualität hervor, bei aller optischen Gleichheit sind immer einzelne bewusst asynchron sich abhebend von der Menge. Oder Lobo lässt tänzerisch wunderbare Bilder entstehen wie die geschuppt beschilderten Schlangen oder die bebrillten Geier. Herrlich die vier (Isabel Dohmhardt – hat heute übrigens Geburtstag, Soo-Mi Oh,  Emily Grieshaber, Savanna Haberland) und herrlich kitschig bei ihrem Requiem für Baloo und der Freude über dessen Auferstehung.

Großen Anteil an dieser fantastischen Produktion hat die Musik, für die Lobo vor allem auf Stücke von Milan Svoboda zurückgriff, einem 1951 geborenen tschechischen Jazzer und Komponisten, der auch schon ein „Mowgli“-Ballett geschrieben hat.  Viele andere Stücke mischt Lobo hinein, Michael Jackson mutet an und die Tequila-Rumba, TV-Show-Bigband-Klänge trompeten und den Schluss haut eine (indische?) Mitklatsch-Nummer in den aufkommenden Beifall hinein. (Nebenbei: wie Lobo mit den Geräuschen Atmosphäre schafft – Kompliment an den Ton, Kevin Fricke und Hartmut Knechtel – ohrenverzaubernd!)

Ende gut, alles gut. Die Tänzer erstarren zu einem Herzen, und unter dem vollen Mond führt Shanti ihren Mowgli wieder hinein ins Menschenleben. Kitsch as Kitsch can. Wunderbar. Tränenrührend. Aber dann haut Profi Lobo noch ein Freudenglanzfinale raus wie Beethoven einst im „Fidelio“. Und alle Menschen (und hier auch die Tiere) werden Brüder.

Freudenfinale – Die Tänzer/innen des Balletts Chemnitz

Da klatscht in Chemnitz schon das ganze Haus mit, im Parkett werden sie gleich aufstehen und den Tänzerinnen und Tänzern zuzujubeln. Und der Crew, die endlich mal nicht nur eine einzelne Rose kriegt, sondern halbwegs üppige der fruchtbaren Vegetation des Dschungels entsprechende Sträuße. Ganz links in der Reihe steht bescheiden eine Frau, die im Programmheft unter „Choreografische Assistenz“ ausgewiesen ist.  Man sieht ihr die Freude über den Erfolg an. Es ist Sabrina Sadowska. Die Chefin des Balletts.

Die nächsten Vorstellungen: 17., 22., 25. November 2017