Arila Siegert kommt vom Tanz her. Sie hat bei Palucca gelernt. Später ließ sie sich als „berufene Expertin“ vom Bauhaus in Dessau prägen. Beide Erfahrungen prägen diesen „Maskenball“. Der Chor, dem Verdi in der Musik eine Hauptrolle zugedacht hat, wird schauspielerisch und vor allem in der Bewegung gefordert. Siegert reiht ihn längs, quer und diagonal. Sie ballt ihn drohend und lässt ihn fröhlich toben, sogar bei einer Schneeballschlacht. Einmal ist Offenbachs Can-Can ganz nah, dann dreht er sich in einer Spirale um Ulrica, die Zigeunerin, beim Totentanz.
Anmerkung: Bei diesem Totentanz ist Ulrica in gleißendes Licht getaucht, während der Chor den Spiralen folgt, die gedimmtes Licht von oben auf den Boden zaubert. Siegert arbeitet gern mit kaltem Licht – selbst die Farben wirken neonfrostig. So heiter der Schein (nur einmal strahlt warmes Licht: vom Kronleuchter in der zunächst fröhlichen Ballszene), so hart die Drohung des blutigen Endes über allem. Im Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit, Sehnsucht und Verzicht, Verzweiflung und Vergebung verwischen sich die gewollten Kontraste. Siegert verzichtet weitgehend auf die „Verfolger“, die Spots auf die Protagonisten, bindet sie ein in die Düsternis oder Helligkeit der Szene. Die Lichtgestaltung (Holger Reinke) trägt entscheidend zum Erfolg dieser Inszenierung bei.
Bauhaus. Hans-Dieter Schaal, der Bühnenbildner, spielte mit dem Bauhaus-Kubus. Und mit Quadraten, die Ordnung bedeuten, auch Gefängnis meinen können. Die glatten grauen Wände können sich gefährlich, Angst machen zuziehen. Und sie können sich öffnen, in Weite abendlich dräuenden oder am Morgen aufwachende Wolkenhimmel zeigen. Die Idee, aus der Gefangenschaft des furchtbaren, grotesken Ballgeschehens hinaus in eine veritable, natürliche Schneeballschlacht zu tollen, ist grandios. Aber auch die Los-Szene spricht Bände: die kubischen Sessel, die von Josef Hoffmann (1870-1976), dem berühmten Wiener Sessel-Designer stammen könnten, werden verschoben, solange noch alles offen ist und die Spannung steigt. Dann stehen sie ordentlich, aber nichts ist in Ordnung. Oder der Stein in der Ulrica-Höhle: schaurig natürlich im gerasterten Unheil-Umfeld. All das schafft Atmosphäre, lässt Anschein erwecken und gleichzeitig Schlimmes ahnen.
Ähnlich die Kostüme von Marie-Luise Strandt. Für die Aufrührer braucht es da keine superhypertollen Mega-Masken. Die farbigen Handschuhe zu den vorwiegend schwarz/weiß-wirkenden Kostümen der Ballgesellschaft und die von Siegert geführten, bis ins Einzelne geplanten Schritte und Bewegungsspäße von allen und einzelnen spannen Bögen der Erzählung bis zum Reißen.
Dieser Verdi ist ein Krimi, ganz nebenbei. Auch wenn er hier mal nicht auf seinen Krimi-Liebling Schiller zurückgegriffen hat wie bei den Räubern, der Jungfrau von Orléans oder den Räubern. Siegert führt nicht nur den Chor grandios. Sie lässt auch die Figuren „leben“, sodass jeder alles versteht, selbst wenn es keine Obertitel gäbe (die im Übrigen wieder hervorragend gekürzt sind. Und bei Ensembles auch die Namen hinzufügen. Klasse und Danke). Dramatik pur, in jeder Sekunde. Jeder will wissen, wie es weitergeht – auf der Bühne. Die Geschichte selbst kennen dabei die meisten…
A propos Ensembles: Verdi hat sie in relativ hoher Stimmlage komponiert, die Arien dafür etwas tiefer. Wie leicht, oder wie glänzend kommt rüber, was doch so schwer zu singen ist. Und wie sehr bedarf es der Stimmkraft und des -Umfanges einer Alexandra Ionis, um als Ulrica auch die Tiefen auszuloten und trotzdem so schauerlich schön das Ende zu verkünden. Schön, dass sie in dieser Spielzeit als Residenzgast in Chemnitz engagiert ist, und wir sie auch in der Hochzeit des Figaro und im Rosenkavalier erleben können. Wenn wir schon bei den Residenzgästen sind: für viele die angenehmste Überraschung des Abends: Silvia Micu, dieser Irrwisch von Page Oscar. Verliebt in den Chef – den sie, Momentmädchen/-junge (Gustav soll „bi“ gewesen sein), der sie/er ist, ans Messer liefert. Schauspielerisch erfrischend und natürlich, und mit einer hellen Sopran-Stimme ausgezeichnet, die mühelos auch die trällerndsten Verdi-Passagen locker beherrscht, als plappere sie gerade einen Small-Talk.
Herausragend der Freund und Mörder Renato von Paolo Rumetz. Auch er ein großartiger Schauspieler mit einer großen Modellierungskraft in der Stimme. Die braucht diese Rolle – auf dem Weg von Liebe, Hass, Mord und Verzweiflung. Und schließlich zur Reue. Jedes Mal ein anderes Herz, scheint es, und jedes Mal eine andere Färbung des Timbres, scheint es ebenso. Groß.
Maraike Schröter (Amelia), seit 2013/14 Ensemble-Mitglied in Chemnitz, haben wir im Rosenkavalier und in Pique dame schätzen gelernt. Mit Amelia hat sie sich noch tiefer in die Herzen des Chemnitzer Publikums hineingewühlt. So zurückhaltend sie in ihren Bewegungen ist, so damenhaft sie sein kann, so variabel ist andererseits ihre musikalische Ausdruckskraft. Seit der „Wahnsinnsarie“ mit Valentina Farkas/Guibee Yang und Philipp Alexander Marguerre (Verrophon) vor zwei Jahren haben wir kein so herausragendes Duo (oder Duett?) zwischen Instrument und Stimme mehr gehört wie jetzt im 3 Akt Maraike Schröter auf der Bühne und Thomas Bruder (Cello) aus dem Graben.
Ho-Yoon Chung singt die extrem schwere Partie des Gustavo. Anfänglich noch mit etwas ausuferndem Vibrato in höchster Empathie, gewinnt er von Minute zu Minute an Profil. Kann den narreten König genauso schamuckeln wie den vergeblich Liebenden Herze zerreißen lassen. Und er stirbt den im „Maskenball“ relativ kurzen Verdi-Tod singend verseufzend so schön, dass so manchem im Publikum die Augen schwitzten. Klasse besetzt auch die anderen Rollen: Magnus Piontek stach hervor als Graf Horn, aber auch der Mitverschwörer Eric Ander (Ribbing) überzeugte. Wir erlebten Edward Randall wie er leibt und wir ihn kennen als Richter, Andreas Beinhauer als munteren Matrosen und Hubert Walawski, den anderen Lockeren (Amelias Diener) unter den Schwergewichten des Dramas.
Chor, Extrachor und Chorgäste waren von Stefan Bilz und Pietro Numico bestens einstudiert worden. Und (fast) immer auch in der steten Bewegung HerrIn der Situation und eins mit dem Graben. Große Leistung. In fremder Sprache, schwierige Partien und höchste Konzentration nicht nur auf den Dirigenten, sondern auch auf den nächsten Schritt – Hochachtung.
Guillermo García Calvo beim Dirigieren zuzuschauen, etwa vom Rang aus, bannt den Blick. Er legt schon mal den Taktstock hin, dirigiert auch mit ganz kleinen Gesten, wenn er spürt, dass er nicht zeigen muss, wer der Chef ist wie manch andere seiner Kollegen. Mittags hatte er noch davon gesprochen, dass eines der hervorstechendsten Merkmale der Robert-Schumann-Philharmonie sei, dass sie eben nicht nur en Sinfonieorchester sei, sondern ein herrliches Opernorchester, das nicht nur hineinsieht in die Noten, sondern auch höre und intuitiv empfinde, was oben auf der Bühne geschieht. Das sind Profis, denen er gern auch mal folgt. Dann wieder spannt er zart (mit dem Handrücken, stand in der Besprechung des Sinfoniekonzerts) ganz gr0ße Bögen. Sein Verdi ist kristallklar. Er trägt nicht nur die Sänger auf Händen, sondern auch die Orchestersolisten (Englischhorn, Flöte(n), Harfe – vom Cello haben wir schon gesprochen). Er spielt einen lockerleichten- humorigen Tanz, wenn Verdi es will (1. Akt), aber er poliert auch vollen Tutti-Glanz. Da klingen die Trompeten dann hell wie die Clairons von französischen oder italienischen Militärkapellen und nicht wie die Posaunen von Jericho. Er holt aus den Bässen bedrohliche Pizzicati heraus und formt genauso präzise die berühmten Akkord-Schläge. Das immer wieder in den Stimmgruppen geteilte Orchester macht auch bei schwierigen Passagen einfühlend mit. García Calvo dankte seinen Musikern mehrfach mit Applaus. Schien sogar gerührt, wie sehr seine Einschätzung, was die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie zu leisten vermögen, an diesem Abend vielleicht noch übertroffen wurde.
Große Oper. Großer Abend. Großer Jubel. Zurecht.
Die nächsten Aufführungen: 8. und 15. Dezember 2017, 14. Und 27. Januar 2018