So lieben wir die Russen

Selten so was:  Kaum kam Giltburg wieder raus auf die Bühne, um sich den immer noch eher gewaltigeren  Beifall abzuholen (am Schluss standen die Leute jubelnd), da zollten auch alle Orchestermusiker Beifall. Mit den Händen und den Bögen auf den Noten. J-e-d-e-s Mal! Und es waren viele. Und García Calvo stand in der Ecke, nicht sichtbar für das Publikum, aber auf der Bühne, und hörte fasziniert den (russischen?) Zugaben zu, ließ sich aber von dem sympathisch bescheidenen Tastenzauberer nicht hervorlocken. Er wollte keine falschen Lorbeeren einheimsen. Bescheiden, auch der Spanier. Ein bisschen zu bescheiden. Denn er und die Robert-Schumann-Philharmonie haben an diesem Abend geglänzt. „Willst Du jemals in einer Welt leben, in der Du so was nicht mehr erleben darfst?“, fragte mich ein Nachbar beim Hinausgehen. Und ich sagte: „Hör auf, nie“. Und dachte an Schostakowitsch.

Der hat unter Stalin gelitten wie ein Hund. Und als dann Chruschtschow statt mörderische Vernichtungslager wie der Vorgänger Neubauten hochziehen ließ, wo die Menschen die Kohlen, so vorhanden, nicht von unten in den siebten Stock schleppen mussten, da komponierte, hältst Du eigentlich im Kopf nicht aus, er gleich eine Operette („Moskau/Tscherjomuschki – die Trabantenstadt heißt auf gut Deutsch “Traubenkirsche”). Aber denken Sie jetzt nicht an Tschechows „Kirschgarten“. Das hier ist ist ein Vorstadtdingens. Nicht Taiga und nicht Tevje. Aber so voller Ideen, voller Hör-dem-Volk-aufs-Maul-Musik (böse Menschen haben keine Lieder), aber auch voller Satire, dass sich Holzbläser-Gejubel und Blech-Blasmärsche in feinem Geigenzirpen erschöpften, die Posaunen in Weltschmerz glissandierten, nur um dann wieder die fröhlichen Urständ der tanzhüpfend singenden Klarinetten von den Volksmusikklezmer-Ahnen erleben zu dürfen. Herrlich. Und wie sie das machten, die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie. Pfeif drauf, dass Du grade Strauss und Verdi gespielt hast – desto höher springt der Springbogen bei den Geigen, desto quirliger wuseln alle durch- und miteinander, desto herzhafter zeigen Becken und Trommeln und Pauken, dass auch mal Schluss sein muss. Wumm, aus, fertig. Und die Hände wollen klatschen, auch wenn Zwischenapplaus in Deutschland ungehörig ist.

In Amerika schert man sich einen Dreck darum. Wenn einem was gefällt, äußert man sich. Und den Leuten in Chicago hat Prokofjews (er hatte nach der Revolution rübergemacht) „Liebe zu den drei Orangen“ gefallen. Dort wurde sie uraufgeführt. Ist ja auch näher an Cuba dran. Woran manch DDR-Kind zuerst denkt, wenn Mann/Frau von der Liebe zu Orangen hört. Mir kommt dazu in den Sinn, dass Dietrich Hilsdorf für seine Inszenierung der „drei Orangen“ in Chemnitz (wurde später in Bonn und Wien nachgespielt) den renommierten Theaterpreis „Faust“ erhielt. Bei dieser sagenhaften Aufführung erlebten wir zum ersten Mal übrigens eine tolle Frau und Sängerin, die als böse Clarica in dieser Oper ihr Chemnitzer Debut feierte. Die Sächsische Zeitung hat die damals 33-Jährige interviewt. „Als Tiina Penttinen das erste Sinfoniekonzert mit der Robert-Schumann-Philharmonie erlebte, konnte sie ihr Glück kaum fassen: „Ich dachte unentwegt: Mit diesem herrlichen Orchester darfst du also singen.““

Tja, da gibt’s auch 11 Jahre nach der damaligen Chemnitzer Premiere nichts hinzuzufügen oder abzustreichen. Dieses fast absurde (dem Stück entsprechende) Feuerwerk von Verrücktheiten (aus der von Cornall arrangierten Suite mit dem eingefügten – herrlichen – Saxophon) spielte die Robert-Schumann-Philharmonie (in voller- nicht in Graben-Stärke) wie die Wiener den „Radetzky-Marsch“ – als ob’s ihre Magen- und Leibspeise wäre. Guillermo García Calvo ließ das Orchester glänzen, innehalten und losprusten, dass es nur so eine Freude war. Und die Schlagzeugergarde, sieben an der Zahl, hatte buchstäblich alle Hände voll zu tun, um sich gegen die geballte Ladung von Saiten, Holz und Blech durch- oder noch die Krone aufzusetzen.

Politisch völlig unkorrekt – was würde er heute verrissen dafür – meinte Prokofjew damals „Mit Rücksicht auf den amerikanischen Geschmack wählte ich eine einfachere musikalische Sprache“… Wenn das seine einfache Sprache ist: dieser Wechsel zwischen Leichtflöckchen und Brummholz, zwischen Streicher-Tänzchen und Blech-Kanonen. Ich fand’s wunderbar. Und großartig gespielt.  Calvo hatte es nicht nötig, bei seinem ersten Sinfoniekonzert ein Hier-bin-ich-Feuerwerk abzubrennen. Dass er mit dem Orchester Glanz entfalten kann, haben wir am Donnerstag zum Auftakt gehört.

Rachmaninow. 3. Klavierkonzert. Verteufeltes Stück. Der Komponist hat es selbst gespielt. Wollte den Leuten wohl zeigen, was das Klavierkonzert für ein Hammer ist, bei dem – wie aus Wikipedia zu erfahren ist (lohnt sich manchmal) – die meisten Hämmer pro Sekunde an die Saiten schlagen verglichen mit allen anderen großen Klavierkonzerten. Jahrelang haben sich nur wenige Pianisten an dieses „Elefantenkonzert“ getraut. Aber es ist beliebt ohne Ende – nicht zuletzt durch das Pianisten-Filmdrama „Shine – Der Weg ins Licht“ um einen australischen Pianisten, der bei der Aufführung einen Klaps bekam und erst langsam wieder ins Leben zurückfand.

Die heutige Pianistengeneration hat keine Scheu mehr vor der Mammutaufgabe. Aber die Tastenzauberer gehen ganz unterschiedlich an das Werk. Die einen, die großen, berühmten, sitzen da, stolz, aufrecht. Die Körpersprache sagt: Schaut her, ich bezwinge auch diesen Elefanten.

Und dann gibt es einen Boris Giltburg. Der verliebt ist in jede einzelne dieser Millionen Noten, die er alle auswendig kann. Der sich über das Klavier beugt, als sei er eins mit ihm. Der hineinzuhören scheint, was ihm die Töne flüstern oder drohen. Der die Tasten streichelt, als seien sie seine Kinder. Sie aber auch seine Wut spüren lässt. Der spektakulär brilliert, aber kein Spektakel veranstaltet. Der sie geradezu beschwört, sich vom Sitz leicht erhebend. Eindringlich, nicht wie manche Tastenweltmeister protzend.

Ihm scheint es egal, wenn bei Eklighochdrei-Passagen über alle Oktaven das Orchester über ihn hinwummert. Das dürfte auch Rachmaninow nicht gestört haben – nicht umsonst hat er dem Orchester den grandiosen Widerpart zugeteilt oder die leise (hallo-wir sind-auch-noch-da-Flöte) wie bei der Kadenz. Diese Kadenz ist ein Wunderwerk, und erst recht ein Wunder, wenn Giltburg sie spielt. Himmel, was zaubert dieser junge Mann an musikalischem Gespür, an überragender Technik und unbedingtem Gestaltungswillen da für einen Kosmos vor uns aus. Den hat selbst der Sputnik nicht gesehen. Und Mütterchen Russland-Enkel Putin erst recht nicht.

Guillermo García Calvo, der Spanier, hat uns mit der „herrlichen“ (Tiina, Du hast so Recht!) Robert-Schumann-Philharmonie und einem ganz großen Pianisten Russen gezeigt, die wir lieben. Spektakulär, aber nicht als Spektakel. Traumhaft. Спасибо!