Gegen den Strich

Torsten Raschs Suite „Das Haus der Temperamente“ ist ein Auftragswerk aus Chemnitz. Hier wurde kürzlich dessen Oper „Die Herzogin von Malfi“ erstaufgeführt (Uraufführung in London). Torsten Rasch ist Dresdner. Hier hat er studiert. Wie Osmar Osten, der (bildende) Chemnitzer Künstler. Der wie Rasch fühlt. Und sich genausowenig auf den ersten Blick erschließt. Zweimal war Osten schon in der „Malfi“. Und, klar doch, auch im Konzert. Muss sich Kunst auf den ersten Blick oder beim ersten Eindringen in den Gehörgang erschließen?

Die Chemnitzer „Malfi“ sorgte für Ärger. Vor allem wegen des Plakats. Ein Elternvertreter nahm den Zensurgriffel und drohte mit Theaterboykott. Still, still, weil’s Kindlein schlafen will. Es gibt keinen Boston-Marathon. Keine abgetrennten Beine, kein getötetes Kind. John Webster, der „Malfi“-Autor, wusste es schon Anfang des 17. Jahrhunderts besser. Die Welt ist grausam.

Auch die Musik von Torsten Rasch ist grausam – zumindest für Wagner- und Verdi-JubOhren. Zwei Stunden zehn – die Oper. Eine viertel Stunde die Suite daraus. Extrakt oder Summa summarum? Spannend zwei Fragen: Was erkennen wir wieder, wenn wir die Oper gehört haben? Rasch was für den CD-Player?

Ehrlich: wenn man nicht so tief in die Musik von Torsten Rasch eingestiegen ist wie die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie und sie nicht so oft gehört hat, bleibt wenig Seelenfrieden stiftender Wiedererkennungswert. Beermanns linker Arm, bisweilen sadistisch (gelangweilt) herunterhängend: Was wollt ihr denn? Ist doch alles logisch? Läuft doch alles zusammen? Klingt doch? Was ist denn da vertrackt?

Gar nichts. Wenn man Schüler ist. Zum Beispiel in Einsiedel. Und noch nicht hundertmal Mozart, Verdi und Wagner gehört hat. Quasi „unverdorben“ der Probe zuhören kann. Und sofort versteht, was GMD Beermann meint, wenn er Rasch spielt.

Für unsere (ach so gebildeten) Ohren: alles. Wir verstehen Bahnhof. Und das ist gut so, oder Chemnitz-Deutsch:gar nicht so ganz schlecht. Weil wir genauer zuhören: die Flöten mit ihren paar Hertz Unterschied, das gesägte Vibrafon, die initiierenden Kontrabass-Säger, die im Kontra-Fagott ihren noch grummeligeren Meister finden, fiepsige Geigenzwitscherer und provokantes Klingelingeling-Glockenspiel – das ist plötzlich da, wieder da. Das haben wir in der Oper gehört. Leitmotive? Eher Leitklänge…

Aber wem zuordnen? Oto (ein t: kleiner Spaß für die Ärzte unter den Hörern) Normalohr hört die Temperamente noch nicht, die Rasch in den Protagonisten entdeckt. Wir haben es fast geahnt, als wir in der Oper erfuhren, der mephistophelische Bosola sei der Melancholiker, der hurenmordenede Kardinal der Phlegmatiker, der liebesmachtgeile Zwillingsbruder Ferdinand der Choleriker und die Ritterin von der traurigen Gestalt, die Zwillingsschwester Herzogin, die Sanguinikerin.

Noch zwei, dreimal hören, vielleicht verstehen wir’s dann auch. Rasch gehört in den CD-Player. Geht aber nicht. Es gibt weder eine CD noch wollen wir uns das zuhause anhören. Nicht wirklich. Aber auf dem Podium: da könnt Ihr es wieder bringen. Da macht es sogar noch viel mehr Freude als aus dem Graben. Da hört das Auge mit – da was los, dort droben, unten links, überall Action – und hilft dem widerspenstigen Sinneskollegen.

Puh. Durchatmen. Zurücklehnen. Jetzt kommt Mozart. Damit unser verstörter Elternvertreter auch was zum Freuen hat. Aber hoppla: gleich beim ersten Akkord kriegt er gewaltig was auf die Ohren. Wummmm. Was ist denn das?

Mozart hat seine Pariser Sinfonie (Nr. 31 D-dur KV 297) für ein widerspenstiges Publikum geschrieben, das er für seine „neue“ Musik gewinnen wollte. Für die Pariser war Gluck schon fast zu modern. „Vous m’arrachez mes oreilles“, rief in Mozarts Pariser Jahr ein Mann im Publikum bei einer Gluck-Oper auf die Bühne hoch: „ Sie reißen mir die Ohren raus“. Mozart kommt dem Publikum entgegen: nimmt die größere Besetzung des Pariser Orchesters (die Chemnitzer auch), tauscht auch schon mal den zweiten Satz aus, weil dem Konzertveranstalter nicht gefiel, dass die erste Version dem Publikum nicht gefiel, weil zu fremd und zu lang (das Publikum zeigte damals mit Beifall – ähnlich heute im Jazz nach einem Solo, ob eine Stelle, ein Kompositionseinfall, anmachte oder nicht), lässt auch den gewohnten dritten Satz weg, dass das p.p. Publikum schneller zum Schampus kommt. Und als die Leute nach dem zweiten Satz noch quatschen, lässt er die zweiten Geigen (schschsch… s’geht weiter) acht Takte vor sich hinmurmeln, bis alle Ohren wieder dabei sind. (Ob er das Allegro so schnell genommen hat wie Beermann, das wissen wir nicht. Die zweiten Geigen hatten mords an Sechzehnteln zu würschen – aber sie haben’s gut gemacht). Das war fremde Musik für die Pariser, moderne Musik, Uraufführung, aber sie haben’s gefressen – Mozart war wer danach. Heute ist das nicht mehr so einfach. Rasch kann ein Lied davon singen. Und Zemlinsky erst recht. Lebte er noch.

Zemlinsky war bis zu dieser Woche in Chemnitz noch nie gespielt worden (hat Carla Neppl, die Konzert-Dramaturgin recherchiert). Wieder so eine Beermann-Entdeckung für Chemnitz – interessant, aber schwierig. „Lyrische Sinfonie“ – da denkt man an Eichendorf, an Goethe oder Rilke, an Musik von Schubert oder Wolf. Zemlinsky bringt Texte von Rabindanath Tagore, dem indischen Zeitgenossen, dessen Aphorismen von anderen Zeitgenossen gern auch mal als Lebensmotto herangezogen wurden, wie von Aenne Burda (burda moden): „Ich schlief und träumte, das Leben wäre Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich handelte und siehe, die Pflicht war Freude.“ Lyrik?

Der Text der sieben Szenen der Lyrischen Sinfonie rankt sich um Liebe – keiner wirklichen, wie Zemlinsky selbst in einem Aufsatz damals schrieb, sondern vom Traum von Liebe. Und wie das so ist in Träumen – da geht manches durcheinander. Da gibt’s in der Musik zwar wunderbar lyrische Stellen (Anfang Teil 4), aber auch – mitunter mühsam gedämpft – Blechattacken, Becken- und Gong-Gedröhn. Und Julia Bauer kann nicht nur ihr lyrisches Talent ausspielen, sondern auch ihr (oft auf der Bühne erprobtes) dramatisches (6. Teil: „Und es zermürbt meine Brust…“). Der Bariton Klaus Kuttler muss seine Sehnsucht mitunter geradezu hinausbrüllen über das Orchester-Ungetüm der realen Wirklichkeit.

Im ersten Satz entscheidet sich alles – hat Zemlinsky den Dirigenten ins Manual geschrieben. Und Beermann richtete sich danach. Die Stimmung hielt – von den ersten lauten bis zu den letzten ersterbenden Tönen. Die durchweg tonale Sinfonie, entstanden an der Schwelle von Mahler-Romantik zu Zwölfton-Moderne – ist fremd für die heutigen Ohren, obwohl schon 90 Jahre alt. Aber faszinierend. Aber sie will erst entdeckt werden. Sie passt sich nicht den Ohren an. Umgekehrt wird ein Klang daraus.

Ob die Chemnitzer das mitmachten? Am Mittwoch waren nicht ganz so viele da wie sonst. Am Donnerstag hatte sich rumgesprochen, dass da gerade was Interessantes abgeht. Der Rasch – Beifall eher zurückhaltend. Der „fremde“ Mozart – alles noch gebügelt vom Rasch. Zemlinsky – Jubel um die großartige Julia Bauer, den beherrschten und beherrschenden Klaus Kuttler, um eine bestechend präzise und Stimmung malende Philharmonie – und einen Frank Beermann, der nach einer neuen Unkonvention gelassen vom Podium herunter beobachten konnte, dass seine Chemnitzer auch steinige Wege mitgehen. Als ob er das nicht schon längst gewusst hätte…