Gänsehaut-Atmosphäre, Herz erwärmender Klang, bombastisches Tongemälde

Die Robert-Schumann-Philharmonie hat mit Ligeti keine Probleme. Seit „Le grand macabre“ weiß die Musikwelt, dass in Chemnitz Musiker spielen, die vor keiner „modernen“ Schwierigkeit zurückzucken. Ligetis „Atmosphères“ sind eines dieser komplizierten Stücke. Es wurde 1961 uraufgeführt von dem einzigen Orchester, das so etwas Neues damals konnte, dem SWF-Sinfonieorchester (dessen Nachfolger, das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg nun schändlicherweise aufgelöst werden soll, weil der gebührenfinanzierte SWR lieber auf Quoten als auf Qualität schaut). Donaueschingen, das kleine Schwarzwaldstädtchen, hat eine lange Musiktradition durch die Fürsten, die schon im 18. Jahrhundert weltbeste Musiker anstellten (wie jenen Fialla, dessen Englisch-Horn-Konzert wir zur Eröffnung des sächsischen Mozartfestes am Sonntag in der Kreuzkirche hörten- heute kennen wir die Fürsten übrigens durch das Fürstenberg-Bier im ICE). Aber auch durch die Donaueschinger Musiktage, wo sich entscheidet, ob sich Musik von heute durchsetzt. Ligeti hat sich vor 53 Jahren mit seinen Atmosphères dort durchgesetzt. Seither ist er ein Großer der Musik. In der Welt.

Jetzt also die irre schwere Kopfgeburt Ligetis in Chemnitz. Keine Töne sollten mehr hörbar sein, nur Atmosphärisches, Unwirkliches, nicht Definerbares. So wie sich Stanley Kubrick das garstige Weltall in „Krieg der Sterne“ vorstellte, Er hat Ligetis Komposition eingesetzt, um im Kino Gänsehaut zu erzeugen. Das geht auch in der Stadthalle, wie wir am Mittwoch gehört haben. Nur wenige Orchester in der Welt sind fähig zu diesem und wagen sich an dieses Werk. “Es ist mein Lieblingsstück”, sagte kürzlich Generalintendant Christoph Dittrich, selbst gelernter Tubist. Er weiß, wovon der spricht. Das spielt jeder der fast 100 Musiker eine eigene Stimme, 87 unterschiedliche sind es. Die Instrumente sollen manchmal klingen, dass man sie gar nicht erkennt. Es soll rauschen und knistern, die Klänge schwellen und verschlupfen im schwarzen Loch der Gestirnenwelt, wünscht sich Ligeti. Für die Musiker heißt das, Töne spielen, die es fast nicht gibt. Die keiner je geübt hat vorher. Töne, die so eng beieinander liegen, dass auch die schlanksten Geigerinnen-Finger in der Höhe so eng gar nicht nebeneinander liegen bleiben können. Halffter, der Dirigent, schlägt seinen strukturierenden Vierer-Takt, als ob das alles nichts wäre. Kann er. Er weiß: Auf den leisesten Wink aber reagieren die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie, als sei diese 8-Minuten-Herausforderung nicht adrenaliniger Staatsexamensstress, sondern Sonntagsnachmittagskuchenessen am faulen Feiertag. Ligetis Stück ist kein Ohrwurm. Aber an ihm beweist sich, dass die Robert-Schumann-Philharmonie eines der besten deutschen Orchester ist. Eine phänomenale Leistung.

Der Beethoven dann. Das Violinkonzert. Kennt jeder. Die vier Paukenschläge am Anfang. Deutlich hörbar. Das ist wichtig. Weil das Motiv durch das ganze Konzert geistert. Nur: Bei gemittelten mp3-Aufnahmen oder Sampler-CDs kaum zu hören. Überraschung: Pedro Halffter nimmt das Konzert so langsam, dass man Angst haben könnte, es bräche auseinander. Noch nie habe ich das Konzert so betulich gehört. Keine Ahnung, ob Halffter oder der Solist diese Langsamkeit anstrebten. Sie schafft viel Atmosphäre, passt zu Ligeti, gewiss. Aber das Risiko ist hoch. Nicht aber bei Kirill Troussov, dem jungen, erst 32-jährigen russischen Geiger. Der Junge, der auf der Stradivari spielt, mit der einst Adolph Brodsky das Tschaikowsky-Violinkonzert uraufgeführt hat, verfügt über einen derart warmen Ton, dass man eher wünschte, er würde gar nicht verklingen. Er lässt sich nicht irritieren von den Hörnern, denen Halffter zu viel Pausbacken gönnt, er  riskiert zwei- oder dreimal ein nicht so recht passendes Glissando, er landet im Sforzato, auch wenn Halffter noch nicht ganz so weit ist – macht nichts. In der Kadenz (vor allem im ersten Satz) macht er sich frei, lässt ahnen, was er auch musikalisch drauf hat. Der Mann, der für den Weltspitzegeiger Gideon Kremer einst bei einem Rundfunkkonzert in Frankreich einsprang, und gefeiert wurde, wärmt auch die Herzen der Chemnitzer. Sie lieben ihn, von der ersten Sekunde an. Er spielt, wie er auf dem Bild aussieht: elegant, modern, schnörkellos, sauber – keine Haarspitze verschiebt sich, kein Bogenhaar wird überstrapaziert. Großer, herzlicher Beifall. Seine Blumen schenkt er Heidrun Sandmann. Das kommt an. Sie mögen ihn, die vielen im Saal.

Und sie lassen ihn nicht ohne Zugabe gehen. War klar. Ich hatte mir schon überlegt, was er wohl spielen würde. Bach, dachte ich. Nichts anderes geht. Denkste! Der junge Mann ist mutig. So mutig wie der Komponist. Beethoven hatte sein Violinkonzert, eines der größten Werke der Musikliteratur, komponiert als Anti-Stück zu den Paganini-Ritten, die der Teufelsgeiger landauf landab (hier in der Nähe auch, im Konzertsaal des Grandhotels Pupp in Karlsbad) damenbetörend brillant, orgasmusbeschwörend hingefetzt hatte. Und nun zeigte Kirill Troussov, was Beethoven nicht mochte, und was trotzdem grandios ist. Und auch in Chemnitz stöhnte der Saal auf, als Troussov die Pizzikati der linken Hand fliegen ließ, die ungleich schwierigeren Flageoletts schwirren, die Dreifachgriffe krachen und die Oktaven, auch wenn sie nach oben immer enger werden, absolut sauber über die Saiten gleiten ließ. Dass der eine oder andere Ton in der Eile verlustig ging, was juckt’s. Das hat auch Paganini nie gestört. Troussov schien aus sich rausplatzen zu wollen, seine andere Seite beweisen zu wollen, nicht nur den traumschönen Beethoven. Nix mehr mit Langsamkeit und Schönheit des Seins. Jetzt tobte das Publikum. Viele hielt es beim Beifall nicht auf den Plätzen.

Nach der Pause noch einmal ein Schocker der Programmgestalter. Sibelius. Zweite Sinfonie. Jenes Italien-inspirierte Gemälde sonnenbeschienener, fruchtbringender Landschaften und sehnsüchtig einsamer Finnmückensee-Oboe. Schocker, weil das pure Ligeti-Gegenstück. Kein Mensch am Mittwoch-Abend hat die Wut auf die Russen gehört, die wie derzeit die Ukraine damals Finnland unter ihre Fuchtel halten wollten. Nur wer wusste, dass Sibelius diese Freiheits-Sinfonie nicht ganz unpolitisch denkend niedergeschrieben hat, ahnte es. Dieser Zwischendurchkrach, dieses Muskelnzeigen in Blech und Holz gegenüber dem Volk, den vereinigten Streichern, manchmal gar unisono „wir sind das Volk“. Halffter, der Spanier, der auf den Kanaren ein Orchester hat, brachte diese Zerrissenheit zwischen Sehnsucht nach Sonne und Gebundenheit an die kalte Scholle großartig rüber. Die Schumann-Philharmoniker kennen ihn inzwischen gut. Und sie machen mit. Gern. Mit Herzblut. Das Finale – fast eine Hymne. Das Publikum, total beeindruckt. Der Beifall groß. Aber erst beim zweiten Halffter-Rauskommen trampelnd. So ein gewaltiges Tongemälde will erstmal verdaut sein.

Ein Abend, den niemand so schnell vergisst. Und eine Robert-Schumann-Philharmonie, die wieder mal zeigte, was Chemnitz kann. „Die Stadt sind wir“ – die Musiker sind geniale „Macher“. Irgendwann erkennt das auch das Stadtmarketing.