Iris ter Schiphorst ist 58. Aber jung und froh im Kopf und der Komponierhand. Ihre Musik ist – Chemnitzer werden das verstehen – wie klingender Osmar Osten. Skurril bisweilen, alle Techniken durcheinanderwürfelnd, wortfetzend, ästhettupfend und dickspachtelig. So kommt auch das Anfangswerk des Sinfoniekonzerts daher: Iris ter Schiphorsts für das Potsdamer Kammerorchester geschriebenes (und von ihr selbst mit Sample-Technik aufgeputztes) Stück „Broken, oder ‚Why don’t you say a word…‘“
Orchestermanagerin Susanne Fohr und die Tontechniker des Theaters hatten sich an genaue Angaben der Komponistin zu halten: welcher Sampler zu verwenden sei, welche Stecker vonnöten, wie die Lautsprecher zu platzieren seien. Klappte alles. Elektronische Klänge und verzerrte Wortfetzen waberten um das Orchestertutto (auch hier genaue Vorschriften: sechs erste, fünf zweite Geigen …). Schon die Regie-Anweisungen sind ein witziges Kunstwerk für sich.
Ter Schiphorst ist in Chemnitz bekannt. Einige Werke wurden hier schon von ihr aufgeführt. Eins sogar uraufgeführt, „Eden Cinema“ 2005 durch das Ensemble 01 um Andreas Winkler. Ihm hat’s einen Stich gegeben, als der Dirigent beim freundlichen Applaus immer wieder die Partitur ins Publikum zeigte: „Ich kann nichts dafür“ (stimmt, dazu später mehr), „diese Frau hat das gemacht“, wollte er uns wohl damit sagen. Die Frau wäre gern in Chemnitz gewesen, wo sie viele Freunde hat, und wo ihr dieses Jahr einige Porträtkonzerte gewidmet sind. Doch die Arme lag mit schwerer Bronchitis in Berlin im Bett. Hoffentlich kommt sie im März zum Sinfoniekonzert, wenn ihr „Hundert Komma Null“ (damit hat sie sich weltweit einen Namen als Komponistin gemacht) aufgeführt wird.
Die Musiker der Robert-Schumann-Philharmonie lieben diese Frau, sie hängen sich für jeden verqueren Rhythmus, für jede synkopische Note, auch für (bisweilen zu) lange stinknormale angeswingte Passagen rein. Hat eigentlich nur noch gefehlt, dass Iris ter Schiphorst selbst mit einer E-Gitarre auf der Bühne gestanden und den Bass markiert hätte wie damals, als die studierte Pianistin nebenbei in einer Band rockte.
Die Komponistin bezeichnet sich selbst als „Expertin für das ‚Dazwischen‘…Ich befinde mich immer irgendwo dazwischen“. „Dazwischen“ befand sich auch der junge Richard Strauss, als er sein Violinkonzert (angeblich) ins Schulheft skizzierte. Fand er interessanter als den Abi-Stoff. Aber der 18-Jährige, der noch viel viel viel Beethoven, Brahms und Co. im Kopf und den Gehörgängen hatte, war noch ein bisschen zu grün, um es den Großen gleich und doch schon was ganz Neues zu machen, wie er es wenig später schaffte.
Das Konzert wird nicht sehr oft gespielt. Heidrun Sandmann, die Geigen-Queen der Robert-Schumann-Philharmonie (amtsdeutsch: Konzertmeisterin), hat uns – danke! – schon öfter live was auf’s Ohr gegeben, was allenfalls Freaks in der CD-Sammlung haben oder sich aus dem Netz runterladen. Die Violinkonzerte von Pfitzner etwa, oder von Dohnányi. Nun also Strauss.
Vieles ist drin in dem Konzert, was wir später an ihm schätzen, vor allem im Orchesterpart. Süße Rosenöltropfende Zwiesprachen zwischen Horn und marschalliner Bratsche, Horn und oktavianscher Geige. Furiose Doppelgriffkaskaden und innige herzschmerz-Melodien (zweiter Satz) – das alles steht noch ein bisschen unvermittelt nebeneinander. Und wird gehalten allein von der Klasse der Solistin und …?
Ursprünglich hat Strauss das Werk für Violine und Klavier geschrieben. Da konnte einer (in dem Fall auch er selbst im Konzertieren mit dem Geigenlehrer) richtig in die Tasten hauen. Und da passen dann auch die teuflisch blöd liegenden Doppelgriffe und Oktavenrutscher der Geige. Ein Jahrzehnt später hat der nun schon erfahrene Strauss den Klavier- zu einem Orchesterpart umgeschrieben. Da war noch was zu holen! Ja. Wenn der Dirigent darauf eingeht. Wenn er das Orchester hilfestellend und anstoßend an der Schaukel präsentiert, wenn die Solistin fingerbrecherisch am Geigenhals auf und niederschwingt. Oder zu Beginn des letzten Satzes weiches Frühlingsgras sprießen lässt unter dem sanften Gezirpe der Geige. Hat er nicht, der spanische Dirigent.
Heidrun Sandmann, in schwarz-weißer Robe, konzentriert bis unter die Haarspitzen, die sich auf dem Titel des Programmhefts angestrengt aufrichten, zauberte in den Kantilenen einen wunderbaren runden Ton, auf den tiefen Saiten ebenso wie ganz oben, kurz vor dem Steg. Und sie fetzte die Doppelgriffe hinein gegen die kämpfende Macht eines großen Orchesterbataillons. Und blieb Siegerin. Zu Recht bedankte sich Hartmut Schill, der Meisterkollege, im Namen des Orchesters bei der Solistin mit einem neue Kraft und neuen Schwung gebenden Geschenk, während das Publikum der Geigerin zujubelte.
Nach der Pause, Dvořak, die Achte. Passt wunderbar zum Strauss, vor allem zum Anfang des Schlusssatzes. Jetzt ist der Frühling schon bald da, jetzt fiepen da nicht nur Vögel. Jetzt ist der Wachtelschlag eindeutig hörbar. Die Sonne kommt raus und wärmt. Ulrike Rusetzkys Flöte hat das fertiggebracht. Zu Recht herzlicher Beifall auch für sie beim Schlussapplaus.
Bei dem hielt sich Gastdirigent José Miguel Pérez-Sierra höflich zurück. Wie sonst auch. Beim Schiphorst-Stück, das er wohl in Chemnitz zum ersten Mal in Händen hatte, schien er froh, dass die Philharmonie das Stück so gut über die Runden gebracht hatte. Heidrun Sandmann ist er an Kreativität und Einfühlvermögen nicht gewachsen. Und den Dvořak (bei dieser Wahnsinnsmusik kann man nichts kaputt machen) hat man selten so gleichförmig gehört. Wunderbarer Orchesterklang – laut wie leise, schnell wie langsam. Aber dort, wo ein Dirigent zupacken muss, wenn dynamische Steigerungen sich wie von selbst zum entladenden Ausbruch verdichten, wenn Trompeten das Orchester niederschmettern und nicht vom allgemeinen Fortissimo-Gerammel aufgesaugt werden sollen, wenn „brio“ verlangt wird (wie von Dvořak im ersten Satz), „Feuer“, nicht einfach nur „laut“ – dann ist da eigenestiefelweiterdirigierende Fehlanzeige bei Pérez-Sierra. Und er ist Spanier…
Drei Frauen und das Orchester machten den Abend zu trotzdem zu einer Freude. Hoffnung auf heiterere Tage – nicht nur wegen des Schmuddelwetters draußen, sondern auch im Hinblick auf kommenden Mittwoch. Da entscheidet der Stadtrat über Frost oder Frühling für das Theater mit seiner großartigen Robert-Schumann-Philharmonie.
Näheres über Iris ter Schiphort und „Broken“ (mit Tonbeispiel)