Wärmender Wohlklang pur

Der kleine Mann mit den erhöhten Absätzen, elegant, liebenswürdig, bisweilen fast burschenhaft, ist ein Qualitätsfanatiker. Manche sagen, ein harter Hund, der nichts durchgehen lässt. Der seine Studenten im Orchester in Yale schon mal mitten in der Probe einzeln vorspielen lässt (Höchststrafe!), der die jahrelang kopflosen Philharmoniker des Sinfonie-Orchesters des Koreanischen Rundfunks auf Vordermann brachte und von allen, auch den Altgedienten,  verlangte, dass sie (Todsünde!) nochmal vorspielten, wenn sie im Orchester bleiben wollten.

Dieser Dickkopf unter seinem schwarzen Haarschopf schlüpft am Donnerstag in Chemnitz während des Beifalls ins Orchester hinein, lässt die Flötistin ihren Sonderapplaus abholen, den Oboisten – ja selbst den Pauker (was, ich? – seit wann denn so was?), die Holzbläsergruppe (perfekt in der Rossini-Ouvertüre), die Hörner (Brahms, 2. Satz: Hut ab!), das übrige Blech, die Streichergruppen. Und während alle stehen, verkrümelt sich der Dirigent still und heimlich hinaus und lässt die Chemnitzer ihre stehenden Philharmoniker bejubeln, die an diesem Abend wieder eine große Leistung abgeliefert haben.

Qualität. „Ich zeig sie Euch“, scheint Hahm zum Publikum zu sagen, damit Ihr merkt, was sie können, und was Ihr an ihnen habt, klettert vom Podium, bleibt hinter dem Flügel verborgen – macht sich klein, vor diesen großen Chemnitzer Musikern, die ihren Job beherrschen.

Der Mann weiß, was Qualität ist. Wer Brahms‘ Vierte auswendig dirigiert, wer mit der Linken in einer Kreisbewegung die Hörner aus dem Wald zum Jubel hievt, mit der Rechten die Trompeten zum Glänzen bringt, wer die „Eins“ im Takt mal oben schlägt, mal unten (aber offenbar so, dass jeder kapiert, was gemeint ist), wer bei oktavierten Unisono-Stellen die zweiten Geigen hervorhebt, weil er mehr Mitte braucht, damit die hohen ersten Geigen nicht wie Zugpferde voranmarschieren müssen, sondern über der „Arbeit“ Brillantglitzer verteilen können – so ein Mann weiß, was er macht.

Bei der Vierten von Brahms weiß man nach der zweiten Note, wohin das Ganze soll. Manche Dirigenten nehmen sie „lang“, mit ordentlich Vibrato – da ist die romantische „blaue Blume“ schon gefunden, so wie im Schlager, wo sich auch immer alles gleich auflöst. Das war aber nicht im Sinn des Herrn von Hardenberg, der in Freiberg studierte und später die ganze Romantik als Novalis auf die Suche nach der „blauen Blume“ schickte. Wo möglich auch nicht im Sinn von Herrn Brahms, der mit der „Vierten“ kein anfangperfektes Werk schuf. Die blaue Blume, die Freude, das Glück – danach muss der Mensch suchen, darum muss er kämpfen oder sogar leiden. Nicht umsonst verwendet Brahms im vierten Satz Teile einer Bachkantate zum Text „Meine Tage in den Leiden endet Gott dennoch zu Freuden…“. Tja, die Freude kommt noch nicht mit der zweiten Note. Toller Brahms, gemeinsames Tönewandern von Dirigent und Orchester, wunderbare Klangschichten, kämpferische Kontrapunkte. Ein schöner Schluss des Konzertabends. Kein reißender.

Mitreißend dagegen die hübsche, 22jährige Annika Treutler, die sich das zweite Klavierkonzert von Saint-Saëns vorgenommen hatte. Das Klavier blieb heil, wie sehr sie auch die Fortissimi reinhämmerte, und auch mit High-Heels lässt sich (zumindest am Klavier) das (Gas-)Pedal sehr sauber dosieren. Die junge Dame hat es drauf. Die Finger flogen nur so über die Tasten, der (bekannteste, weil auch im Radio oft gespielte) zweite Satz war traumhaft arabesk. Beifall über Beifall für die (Meister-)Schülerin. Zu Recht.

Annika Treutler spielt nicht jeden Tag mit einem großen Orchester. Warum sie nicht nur deswegen gern nach Chemnitz kommt, hat einen Grund. Letzte Saison sprang sie kurzfristig ein. Wurde bejubelt. Annika Treutler war Schülerin von Matthias Kirschnereit. Der wiederum hat mit Frank Beermann die Mozart-Klavierkonzerte und (zusammen mit der Robert-Schumann-Philharmonie) die Mendelssohn-Klavierkonzerte eingespielt. Beziehungen sind das halbe Leben… Und Chemnitz für Musiker eine erste Adresse.

Später bei Brahms, da saß sie frisch geschminkt und in schwarzen Röhrenjeans, im Publikum. Eine hübsche junge Dame, der man die Kraft und Eigenwilligkeit der Saint-Saëns-Solistin nicht unbedingt zu getraut hätte. Mitreißend, haben wir oben gesagt? Besser vielleicht: Sie trieb den Dirigenten vor sich her. Sie spielte „ihren“ Saint-Saëns – auch wenn es Verzerrungen zum Orchester gab und der Akkord in ihren Händen bisweilen schon fast tot war, ehe Dirigent und Orchester den Hof erreichten. Macht nichts. Sie war dankbar, drückte Konzertmeister Hartmut Schill gleich dreimal dafür, und das Publikum hatte seine Freude.

Wohlklang pur. Balsam, angesichts des draußen frostenden weißen Zeugs, das immer noch den Frühling verhindert.